Die gleichgeschlechtliche Ehe und Art. 6 GG: Der Wortlaut ist eindeutig

von Elisa Freiburg, LL.M. (LSE)

25.07.2015

2/2: Dynamische Auslegung in Anbetracht sich wandelnder Verhältnisse

Wenn das BVerfG nun weiterhin darauf bestünde, dass es sich bei der Ehe im Sinne des Art. 6 zwingend um eine Verbindung zwischen Mann und Frau handeln muss, würde es dadurch nicht gerade seine eigene Tradition verraten, im Rahmen der noch zulässigen Grenzen dort "dynamisch" auszulegen, wo die gewandelten Verhältnisse dies erfordern?

Als Vorbild kann hier auch das Völkerrecht dienen, genauer gesagt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Für diese wurde das Konzept der dynamischen Auslegung entwickelt, um grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Die Präambel der EMRK spricht von der Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann die EMRK-Regelungen daher in einer Art und Weise auslegen, die vom ursprünglichen Sinn und Zweck abweichen, entscheidend ist der aktuelle Sinn und Zweck. Dementsprechend bezeichnet man die EMRK auch als "living instrument".

Diese Herangehensweise ließe sich im Kern durchaus auf das BVerfG übertragen. Wie RiBGH Thomas Fischer an dieser Stelle unlängst mit Blick auf das Strafrecht sagte: "Bedeutungen ändern sich, weil sich die Lebensverhältnisse ändern." Das Erfassen solcher Entwicklungen muss eine Aufgabe der richterlichen Rechtsauslegung sein - nicht nur im einfachen Recht, sondern auch im Verfassungsrecht, wenn auch dort sicherlich behutsamer und mit noch mehr Augenmaß.

Nicht sprunghaft sein – aber auch nicht festgefahren

Natürlich soll die Verfassung als gesellschaftliches Grundfundament und Ruhepol dienen. Sie soll rechtliche und moralische Maßstäbe setzen, die auch in Zeiten dynamischer gesellschaftlicher Veränderung im Wesentlichen konstant bleiben. Wenn sich aber die Verhältnisse derart gewandelt haben, dass die große Mehrheit der Bevölkerung die gleichgeschlechtliche Ehe befürwortet, und wenn sich diese Ehe mit dem Wortlaut des Art. 6 GG ohne Weiteres vereinbaren lässt, dann macht eine verfassungsgerichtliche Auslegung, die dem Rechnung trägt, sich gewiss nicht der Sprunghaftigkeit schuldig. Im Gegenteil: Eine Auslegung, die sich gesellschaftlichem Wandel vollends verschließt und auf nicht vorhandene Differenzierungen des Wortlauts verweist, unterminiert die Legitimität der Verfassung als Grundpfeiler unserer Gesellschaft.

Das BVerfG fungiert als Hüter der Verfassung – nicht als ihr Herr. Die Auslegung durch das Gericht darf nicht zum Selbstzweck werden; das BVerfG sollte nicht zum Ältestenrat verkommen, der auf jahrzehntealte Deutungsmaximen pocht. Die Deutungsmacht des Gerichts über die Verfassung darf den Bezug zu der Gesellschaft, der diese Verfassung dient, nicht verlieren.

Die Autorin Elisa Freiburg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Potsdam.

Zitiervorschlag

Die gleichgeschlechtliche Ehe und Art. 6 GG: . In: Legal Tribune Online, 25.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16364 (abgerufen am: 21.11.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen