70 Jahre Grundgesetz - das Asylrecht aus Art. 16a GG: "Ein Symbol der Humanität"

Interview von Tanja Podolski

07.05.2019

Das Grundrecht auf Asyl ist das einzige in der Verfassung, das nur Ausländern zusteht. Als Anspruchsgrundlage hat es kaum noch Bedeutung, als Wertentscheidung für humanitäre Migration aber durchaus, erklärt Robert Seegmüller im Interview.

LTO: Herr Dr. Seegmüller, mit Art. 16a Grundgesetz (GG) haben wir ein Recht mit Verfassungsrang, das ausschließlich Ausländern zusteht. Wie kam es zu dieser Regelung?

Dr. Robert Seegmüller: Das ist in der Tat eine Besonderheit. Allerdings enthielt schon die Ursprungsfassung des Grundgesetzes in Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. das Grundrecht auf Asyl. Damals war die Schaffung eines subjektiven Rechts auf Asyl mit Verfassungsrang juristisch etwas völlig Neues. Die Entscheidung dafür hat 1948/1949 der parlamentarische Rat nach kontroversen Diskussionen getroffen. Er ließ sich dabei wohl durch eine ganze Reihe von Motiven leiten. Einige der gerade geschaffenen neuen Landesverfassungen enthielten bereits Regelungen über die Gewährung von Asyl und der Entwurf der Erklärung der Menschenrechte sah sogar ein Recht auf Asyl vor.

Die Diskussion stand zudem unter dem Eindruck der Verfolgungen in der sowjetischen Zone. Und schließlich dürften auch die Erfahrungen der deutschen Emigranten, die während der Herrschaft des Nationalsozialismus Schutz im Ausland gefunden hatten, die Diskussion beeinflusst haben. Der letztgenannte Aspekt ist im Laufe der Zeit dann zunehmend hervorgehoben worden.

LTO: Die Regelung des Art. 16a GG steht in der anhaltenden Debatte über Flüchtlinge in der Kritik. Zu Recht?

Seegmüller: In dieser Diskussion wird meiner Wahrnehmung nach vornehmlich die Einschränkung des Umfangs des Flüchtlingsschutzes und eine verbesserte Durchsetzung der ablehnenden behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen über Flüchtlingsschutz gefordert. Wer in dieser Diskussion Art. 16a GG in den Blick nimmt, schaut in die falsche Richtung. Denn die wesentlichen Regelungen über humanitäre Migration sind heute im Völkervertragsrecht und im supranationalen Unionsrecht enthalten. Auf der Ebene des Völkervertragsrechts spielen unter anderem die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) eine Rolle für den Umfang des Flüchtlingsschutzes. Auf der Ebene des Rechts der Europäischen Union sind unter anderem die Qualifikationsrichtlinie, die Verfahrensrichtlinie, die Aufnahmerichtlinie und die Rückführungsrichtlinie zu nennen. Nicht vergessen werden darf schließlich die Dublin-III-Verordnung über die Regelung der Zuständigkeit innerhalb der Europäischen Union für die Durchführung von Asylverfahren.

Eine eigenständige Rolle spielt das nationale Recht – auch das nationale Verfassungsrecht – daneben nur noch, soweit die genannten internationalen und supranationalen Vorschriften noch Regelungsspielräume übriglassen. Bedeutung haben beispielsweise die letztlich aus dem GG abgeleiteten nationalen Abschiebungshindernisse. Aus dem Recht jedes Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt unter anderem, dass die Bundesrepublik Deutschland sich nicht zum mittelbaren Täter einer schweren Gesundheitsverletzung durch einen anderen Staat machen darf. Die Abschiebung in einen anderen Staat ist daher unter anderem rechtlich unzulässig, wenn dem Abzuschiebenden dort mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit eine schwere Gesundheitsverletzung durch die Organe des Zielstaates droht.

Wer Änderungen im Flüchtlingsrecht bewirken möchte, muss mithin vor allem die genannten internationalen und supranationalen Vorschriften betrachten und nicht das nationale Recht. Das enthält zwar teilweise vergleichbare Gewährleistungsgehalte. Deren Beschränkung würde aber an den Gewährleistungsgehalten der anderen genannten Normen nichts ändern. Diese Zusammenhänge haben manche bei der Diskussion über eine weitere Einschränkung oder gar Abschaffung des Art. 16a GG vielleicht nicht immer hinreichend im Blick.

Schon 1993 massive Überforderung der Gerichte

LTO: Der Gesetzgeber hat das Asylgrundrecht in den 90er Jahren wesentlich verändert. Würden Sie uns die Hintergründe erklären?

Seegmüller: Eine explizite Änderung des Verfassungstextes hat es bisher nur einmal gegeben. Das war 1993 als das Asylgrundrecht von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG in Art. 16a GG überführt und dabei ganz erheblich eingeschränkt wurde. Bis 1993 war der persönliche Schutzbereich des Asylgrundrechts unbeschränkt. Das führte zu immer höheren Zahlen von Asylanträgen und -gerichtsverfahren, die Behörden und Gerichte zunehmend überforderten und erhebliche gesellschaftliche und politische Unruhe auslösten.

Im Jahr 1990 wurden ca. 190.000 Asylgesuche gezählt. Diese Zahl stieg 1991 auf 260.000 und schließlich 1992 auf 440.000. Vor diesem Hintergrund entschied der verfassungsändernde Gesetzgeber sich, den Schutzbereich des Asylgrundrechts stark einzuschränken. Zentrales Element der Verfassungsänderung war die Einführung der sogenannten sicheren Drittstaatenregelung. Danach kann sich nicht auf das Asylgrundrecht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Weil Deutschland danach von sicheren Drittstaaten umgeben war und der Haupteinreiseweg der potenziellen Asylantragsteller der Landweg war, konnte sich nach Inkrafttreten der Reform so gut wie niemand mehr mit Erfolg auf das Grundrecht auf Asyl berufen. Es wurde 1993 also faktisch abgeschafft.

In der Folge gingen die Zahl der Asylgesuche und die der Asylverfahren vor den Gerichten erheblich zurück. Nachdem etwa 1993/94 jährlich noch ca. 140.000 Asylverfahren bei den deutschen Verwaltungsgerichten anhängig gemacht wurden, sank deren Zahl bis 2008/2009 auf 10.000 Verfahren pro Jahr.

Mit der Schaffung des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) mit den bereits genannten supranationalen Regelungen ging die asylbegrenzende Wirkung der sicheren Drittstaatenregelung für Deutschland dann wieder verloren. Das europäische Flüchtlingsrecht kennt das Konzept des sicheren Drittstaates zwar auch. Anders als Deutschland ist Europa aber nicht von sicheren Drittstaaten umgeben. Die europäischen Regelungen über sichere Drittstaaten können im Moment daher faktisch keine Begrenzung der Ansprüche auf Flüchtlingsschutz bewirken.

Anders als 1993 hat der europäische Gesetzgeber 2015 auf die steigenden Flüchtlingszahlen nicht mit einer Einschränkung des Schutzumfangs beim Flüchtlingsschutz reagiert. Auf nationaler Ebene hat der bundesdeutsche Gesetzgeber aber versucht, die Verfahrensabläufe effizienter zu gestalten. Den Schutzumfang von Art. 16a GG haben diese Regelungen jedoch nicht tangiert.

Mit Neuregelung viel Arbeit für das BVerfG

LTO: Welche Reaktionen gab es auf diese Einschnitte im Jahr 1993?

Seegmüller: Die Änderungen 1993 haben verfassungsrechtliches Neuland betreten und damit auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beschäftigt, das damals drei ganz wesentliche Entscheidungen an einem Tag traf (Urteile v. 14.05.1993): Es hat zunächst betont, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber auch in der Gestaltung und Veränderung von Grundrechten rechtlich frei ist, soweit nicht die Grenzen der Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG berührt sind.

Sodann hat es weiter ausgeführt, dass das Asylgrundrecht nicht zum Gewährleistungsgehalt von Art. 1 Abs. 1 GG gehört. Sein Gewährleistungsinhalt ist vielmehr eigenständig zu bestimmen (BVerfG, Az. 2 BvR 1983/93, 2 BvR 2315/93). In dieser Entscheidung hat das BVerfG zudem die Regelungen des Art. 16a GG über sichere Drittstaaten gebilligt und interpretiert. Von Bedeutung war insoweit zum einen, dass die jeweiligen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften kraft Verfassungsrecht ohne Weiteres sichere Drittstaaten sind. Zum anderen hat das BVerfG präzisiert, unter welchen Voraussetzungen ein Staat zum sicheren Drittstaat erklärt werden kann.

In einer zweiten Entscheidung hat das BVerfG das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten bestätigt (Az. 2 BvR 1507/93, 2 BvR 1508/93). Die Einstufung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat bewirkt im Asylprozess eine Verlagerung der Darlegungslast für Staatsangehörige aus solchen Staaten auf diese. Insoweit hat das BVerfG einerseits die verfassungsrechtliche Verpflichtung des einfachen Gesetzgebers betont, sich ein Gesamturteil über die für politische Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem jeweiligen Staat zu bilden, der zum sicheren Herkunftsstaat erklärt werden soll. Andererseits hat es die diesbezügliche Einschätzungsprärogative des einfachen Gesetzgebers herausgehoben und ausgeführt, die Einstufung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat könne nur dann verfassungsrechtlich beanstandet werden, wenn eine Gesamtwürdigung ergebe, dass der Gesetzgeber sich dabei nicht von guten Gründen habe leiten lassen.

Die dritte Entscheidung hat schließlich verfassungsrechtliche Maßgaben für die Anwendung der neu eingeführten Regelung des Art. 16a Abs. 4 GG geklärt, die aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Asylbewerbern aus sicheren Herkunftsstaaten und in anderen Fällen, in denen das Asylgesuch offensichtlich unbegründet ist, auch vor einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung über das Asylgesuch gestattet (Az. 2 BvR 1516.93).

Wichtiges Symbol der Bundesrepublik

LTO: Tatsächlich bleiben wenige Fälle für den Anwendungsbereich des Art. 16a GG, könnten wir die Norm nicht abschaffen?

Seegmüller: In der Tat liegt die Anerkennungsquote aus Art. 16a GG seit Jahren bei unter zwei Prozent. Fälle, in denen lediglich Art. 16a GG einen Schutzstatus vermittelt, nicht aber die auf europäisches Recht gegründeten Schutzansprüche, sind tatsächlich kaum denkbar. Von daher würde die Streichung der Vorschrift wohl keine Lücken im Flüchtlingsschutz reißen. Das Asylgrundrecht ist siebzig Jahre nach seiner Schaffung inzwischen aber viel mehr als nur ein weiteres subjektives Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Es ist auch zu einem Symbol für eine grundsätzliche Offenheit des Grundgesetzes für humanitäre Zuwanderung geworden. Die Abschaffung von Art. 16a GG würde daher nicht nur die Botschaft senden, dass ein subjektives Recht gestrichen worden ist, sondern wohl auch eine Abkehr von der genannten Offenheit für humanitäre Zuwanderung signalisieren. Letztlich muss der verfassungsändernde Gesetzgeber entscheiden, ob er eine solche Botschaft senden möchte.

LTO: Das Grundgesetz wird nun 70 Jahre alt. Glauben Sie, Art. 16a GG wird beim 100. Geburtstag des GG auch noch existieren?

Seegmüller: Das glaube ich ganz sicher. Für seine Abschaffung bedürfte es verfassungsändernder Mehrheiten, sprich zwei Drittel Mehrheiten im Bundesrat und im Bundestag. Derzeit kommt im Bundesrat nicht einmal eine einfache Mehrheit für eine Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten zustande. Ich sehe nicht, wie bei dieser Situation eine zwei Drittel Mehrheit für eine Streichung von Art. 16a GG zustande kommen könnte.

Dr. Robert Seegmüller ist Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin und Richter am Bundesverwaltungsgericht. Zuvor war er u.a. 15 Jahre als Richter am Verwaltungsgericht Berlin tätig, seine Kammer war für unter anderem für Ausländer- und Asylrecht zuständig.

Zitiervorschlag

70 Jahre Grundgesetz - das Asylrecht aus Art. 16a GG: . In: Legal Tribune Online, 07.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35215 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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