Wenn es intim wird, müssen Ermittler ihre Richtmikrofone abschalten: 2004 traf das BVerfG ein wegweisendes Urteil zum "Großen Lauschangriff". Dennoch büßte Art. 13 GG bald seine Bedeutung als "das" Grundrecht gegen Überwachung ein.
Es war vielleicht die umstrittenste kriminalpolitische Entscheidung der BRD. Am 16. Januar 1998 stimmte der Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit einer Grundgesetzänderung zu. Sie sollte den Weg frei machen für die Akustische Wohnraumüberwachung, auch "großer Lauschangriff" genannt. Ende der 1990er Jahre sollten die neuen Befugnisse vor allem dem Kampf gegen organisierte Kriminalität dienen, der 11. September 2001 und der Kampf gegen internationalen Terrorismus als Legitimierung von Grundrechtseingriffen lagen noch in einiger Entfernung.
War eine Störung des privaten Lebensraums früher vor allem durch eine drohende Hausdurchsuchung geprägt, sollten mit dem "Großen Lauschangriff" neue technische Möglichkeiten der Überwachung von außen hinzukommen. Und das obwohl Art. 13 Abs. 1 GG im Indikativ feststellt: "Die Wohnung ist unverletzlich", und damit die Schwelle für jeden Eingriff hoch ansetzt. Für Kritiker der neuen Abhörmaßnahmen bedeutete die Entscheidung einen Wendepunkt der Rechtspolitik. Die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) trat daraufhin zurück – und klagte mit anderen gegen den "Lauschangriff".
Schließlich erklärte 2004 das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den "großen Lauschangriff "zwar für zulässig, schränkte den Einsatz aber deutlich ein (Urt. v. 03.03.2004, Az. 1 BvR 2378/98). Das Urteil wurde als richtungsweisende Grundsatzentscheidung bekannt. Insbesondere arbeiteten die Richter einen absoluten Schutz für den "Kernbereich privater Lebensgestaltung" heraus, also etwa für Gespräche zwischen Familienmitgliedern. Schneiden die Ermittler so ein sensibles Gespräch mit, müssen sie die Überwachung unterbrechen. Die Richter betonten den "Menschenwürdegehalt", der in Art. 13 GG angelegt ist, und legten damit den Grundstein für die Weiterentwicklung des Überwachungsschutzes – der im Wohnraumschutz zwar seinen Ausgangspunkt hat, bald aber über die Grenzen des Art. 13 GG hinaus entfaltet werden wird.
Gelöcherter Grundrechtsschutz bei technischer Überwachung
Der "Kernbereich" mag zwar bis heute am Küchentisch oder im Wohnzimmer gelebt werden, aber wer etwas über das Leben der Bewohner erfahren will, findet vielversprechendere Zugänge als über versteckte Wanzen und Richtmikrofone. Die private Persönlichkeitsentfaltung vieler Menschen hinterlässt ihre Spuren vor allem auf den Festplatten, Smartphones und nicht zuletzt in der Cloud – also völlig unabhängig von Haus oder Wohnung. Das führt dazu, dass "Wohnraumschutz", verstanden als "Privatheitsschutz", verfassungsrechtlich eine Wandlung erfährt.
Der Wohnraumschutz aus Art. 13 GG hat deshalb auch seine Vorrangstellung als Freiheitsgrundrecht gegenüber staatlicher Überwachung eingebüßt. Im Kern steckt in Art. 13 GG ein räumlich verkörperter Persönlichkeitsrechtsschutz, der viel stärker in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verankert ist.
Die Wohnung wird durch das Grundgesetz besonders geschützt, weil sie als Rückzugsort gilt, ein Ort, an dem wir keine Erwartungen einer Öffentlichkeit erfüllen (wollen) müssen. Der früh verstorbene und leider zu wenig bekannte Verfassungsrechtler Dieter Suhr schrieb bereits 1976 über die Persönlichkeitsentfaltung des Menschen – und zwar durch die Menschen, also gerade in der sozialen Interaktion mit anderen. Die Wohnung dient als Rückzugsort und vor allem auch dazu, uns neu zu erfinden, auszuprobieren und auszuruhen, um anderen wieder gegenüber zu treten.
Dass der Schutz dieser grundrechtlichen Entfaltung in Art. 13 GG nicht hinreichend gut aufgehoben ist, wurde bereits vier Jahre nach der Entscheidung zum "Großen Lauschangriff" allzu deutlich. Mit seiner Entscheidung zur Online-Durchsuchung schuf das BVerfG 2008 ein neues Grundrecht, bekannt als das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, oder kurz "IT-Grundrecht" (BVerfG, Urt. v. 27.02.2008, Az. 1 BvR 370/07).
Gefahren unabhängig von Rückzug in Wohnung
Dieses IT-Grundrecht löst den Gedanken des "Kernbereichsschutzes für die private Lebensgestaltung" von seiner Verortung im Wohnraum und überträgt ihn auf technische Systeme wie Computer oder Laptops. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus: "Denn der Eingriff kann unabhängig vom Standort erfolgen, so dass ein raumbezogener Schutz nicht in der Lage ist, die spezifische Gefährdung des informationstechnischen Systems abzuwehren."
Der Schutz vor Überwachung des Privatbereichs kommt bei Art. 13 GG aufgrund neuer Techniken an seine Grenzen und offenbart aus Sicht der Karlsruher Richter plötzlich Schutzlücken. Zwar kann auch bei der technischen Überwachung von Computersystemen wieder Art. 13 GG ins Spiel kommen, etwa wenn das Gerät in der Wohnung steht und die Ermittler Zugriff auf eingebaute Kamera und Mikrofone nehmen. Den Schwerpunkt der Gefährdung sieht das Gericht aber woanders. Der Home-PC wurde zur neuen Schwachstelle in den eigenen vier Wänden: "Art. 13 Abs. 1 GG schützt zudem nicht gegen die durch die Infiltration des Systems ermöglichte Erhebung von Daten, die sich im Arbeitsspeicher oder auf den Speichermedien eines informationstechnischen Systems befinden, das in einer Wohnung steht."
Der Fall der Online-Dursuchung macht klar: Der Überwachung geht es nicht länger nur um das Live-Mithören oder Mitschneiden, es geht um den Zugriff auf ganze digitale Informationsbestände wie Audioaufnahmen, Fotos, Videos, Aufzeichnungen, Kalendereinträgen. Und damit eine ganz andere Dimension des "Lauschangriffs".
Renaissance für Art. 13 GG dank Alexa & Co?
Während beim Einsatz neuer Überwachungstechnologie wie Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) oder Online-Durchsuchung der Art. 13 GG also keine Rolle mehr spielen dürfte, könnte aber unverhofft die Verbreitung neuer Smarthome-Devices wie Alexa & Co dem "alten" Grundrecht neue Anwendungsfälle bescheren. Was Ende der 1990er Jahre noch wortreich als Gefahr abgewehrt werden sollte, steht heute ganz freiwillig in vielen Wohnzimmern. Datenschützer warnen vor dem Dauer-Lauschen der Geräte, das sie attraktiv für Hacker aber auch für Strafverfolger machen können.
Wer Zugriff auf ein fremdes Computersystem oder ein Smarthome-Device gewinnen möchte, muss erstmal heimlich einen Zugang in das System finden. Das stellt die Ermittler offenbar immer noch vor Herausforderungen. Deshalb fordern Innenpolitiker ein neues Betretungsrecht für Wohnungen, um PC, Laptop oder auch Alexa quasi händisch mit einer Schadsoftware zu infizieren. Und die Justizministerkonferenz sprach sich bei der Sitzung im Juni 2018 für eine entsprechende Ergänzung aus.
Ein solches Betretungsrecht sieht erstmals der Referentenentwurf aus dem Innenministerium zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechts mit einem § 9e vor. Dort heißt es in Abs. 6: "Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf Wohnungen auch betreten, um Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 5, nach § 11 Absatz 1a des Artikel 10-Gesetzes oder § 9d vorzubereiten." In § 9d ist der Einsatz von Trojanern zur Quellen-TKÜ bzw. Online-Durchsuchung geregelt. Der heimlichen digitalen Überwachung würde dann noch ein heimlicher analoger Besuch in der Wohnung vorausgehen. Es kommt zu einer Spannung der gesetzlichen Wertungen: Während nach § 100 c Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) für die "klassische" akustische Wohnraumüberwachung zwar auch – falls notwendig – ein heimliches Betreten der Wohnung den Ermittler erlaubt ist, kennt die StPO keine heimliche Durchsuchung der Wohnung.
Ob der Entwurf so Gesetz wird, ist nach heftigem Widerstand aus der SPD erstmal fraglich. Falls das Betretungsrecht zu Überwachungszwecken im Verfassungsschutzgesetz oder in einem anderen Sicherheitsgesetz kommen sollte, wird es an Art. 13 GG zu messen sein.
70 Jahre GG – Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG: . In: Legal Tribune Online, 10.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35291 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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