BVerfG vor Grundsatzentscheidung: Hat die AfD ein Recht auf Aus­schuss­vor­sitz im Bun­destag?

von Dr. Markus Sehl

17.09.2024

Die Ausschussmehrheit lässt regelmäßig AfD-Kandidaten durchfallen. Den bislang einzigen AfD-Vorsitzenden wählte der Rechtsausschuss 2019 wieder ab. Das BVerfG verkündet zu diesen Fällen sein Urteil am Mittwoch.

Im Herbst 2017 sicherte sich die AfD zum ersten Mal den Einzug in den Bundestag. Seitdem hat die Fraktion nur ein einziges Mal den Vorsitzenden für einen der zahlreichen Ausschüsse im Parlament gestellt. Der Rechtsanwalt und AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner war keine zwei Jahre Vorsitzender des Rechtsausschusses. Dann wurde er Ende 2019 mit den Stimmen aller Nicht-AfD-Ausschussmitglieder geschlossen wieder abgewählt. Ein bislang einmaliger Vorgang in der Bundestagsgeschichte. Und einer, der mittlerweile das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. 

Am Mittwoch wird es sein Urteil in zwei Organstreitverfahren verkünden. Im ersten (2 BvE 10/21) geht es grundsätzlich darum, ob die AfD-Fraktion einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf hat, über einen der vielen Ausschüsse Vorsitz zu führen. Dann müsste geklärt werden, ob und wann die von der Mehrheit der Ausschussmitglieder verweigerte Wahl einer ihrer Kandidaten die AfD in diesem Recht verletzt. 

Im zweiten Verfahren (Az.: 2 BvE 1/20) wendet sich die Partei konkret gegen die Abwahl von Brandner im Rechtsausschuss 2019. Hier geht es darum, ob eine solche nachträgliche Abwahl überhaupt rechtlich möglich ist. In der mündlichen Verhandlung Ende März in Karlsruhe, LTO berichtete, machte die für das Verfahren als Berichterstatterin zuständige Richterin Christine Langenfeld deutlich, dass der Zweite Senat eine grundsätzliche Entscheidung anstrebt. "Wir wollen für künftige Verfahren die Pflöcke einschlagen", sagte sie. 

Wie wichtig sind Ausschussvorsitzende?

Die Ausschüsse sind die Werkstätten der parlamentarischen Arbeit. Hier wird die Sacharbeit des Bundestags im Detail erledigt. Die Abgeordneten diskutieren und arbeiten an Gesetzesentwürfen, führen Anhörungen mit Expertinnen und Experten durch. Schließlich bereiten sie dadurch die Beschlussfassung des Parlaments vor. Derzeit gibt es 27 Ausschüsse zu diversen politischen Themengebieten. 

Die Ausschussvorsitzenden haben eine wichtige Position: Sie bereiten die Sitzungen vor und leiten sie. Außerdem sind sie das Gesicht des Ausschusses nach außen. Ihre Rolle hat also etwas Überparteiliches – sie repräsentieren. 

Gesetze oder Beschlüsse im Alleingang beeinflussen können sie allerdings nicht; auch sie sind auf entsprechende Mehrheiten im Ausschuss angewiesen. Ihre Stimme zählt nicht mehr als die der anderen. Sie haben keine besonderen Kontrollrechte im Ausschuss. 

Die Charakterisierung der Rolle des Ausschussvorsitzende ist wichtig, denn sie kann darüber entscheiden, ob durch eine Verweigerung der Posten Oppositionsrechte beschränkt werden. Ein Thema, auf das das BVerfG sehr genau schaut – das hat es im März in der mündlichen Verhandlung durchblicken lassen. Richterin Langenfeld sprach von einer "moderierenden und integrierenden Rolle des Ausschussvorsitzenden", sie sah den Vorsitzenden nicht in einer Oppositionsrolle. So hatte auch die Prozessbevollmächtigte des Bundestags, die Staatsrechtlerin Sophie Schönberger, argumentiert.

Geht das Konsensprinzip verloren?

Wer in den Ausschüssen Vorsitzender und Stellvertreter wird, handeln die Fraktionen untereinander aus. Schließlich fallen diese Fragen in das Selbstorganisationsrecht des Parlaments (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz). Das Grundgesetz (GG) enthält dazu keine näheren Vorgaben. Rahmbedingungen sind in der Geschäftsordnung des Bundestags (GO-BT) festgehalten. Bisher konnten die Fraktionen dabei auf Konsens vertrauen, auf einen echten "Wahlvorgang" in den Ausschüssen kam es nicht an. 

Die AfD will in der laufenden Legislaturperiode die Vorsitzposten in den Ausschüssen für Inneres und Heimat, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und des Gesundheitsausschusses besetzen. Die anderen Fraktionen und ihre Mitglieder ließen die AfD-Kandidaten aber ein ums andere Mal durchfallen. Die Ausschüsse haben derzeit keinen Vorsitzenden, die Aufgabe nehmen Stellvertreter aus anderen Fraktionen wahr.

Gibt es ein Recht auf Ausschussvorsitzposten?

Die AfD-Fraktion und die übrigen Fraktionen berufen sich im Streit um die Vorsitzposten auf unterschiedliche Vorschriften der Geschäftsordnung. Die AfD pocht auf § 12 GO-BT. Danach ist "die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen". Das könnte dafür sprechen, dass die Stärke der AfD sich auch auf der Ebene der Ausschussvorsitzenden widerspiegeln müsste. Die übrigen Fraktionen halten mit § 58 GO-BT dagegen. Dort heißt es: "Die Ausschüsse bestimmen ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat." Konnte man also von konsensualer Bestimmung auf eine echte Wahl der Vorsitzenden umschwenken – zum aktuellen Nachteil der AfD-Kandidaten?  

Der Rechtsvertreter der AfD, der Rechtsanwalt und Privatdozent Michael Elicker, verwies auf mehr als 60 Jahre in den die Ausschüsse ihre Vorsitzenden nur bestätigt und nicht gewählt hätten. Die Wahl sei ein Bruch mit einer Tradition. Wie viel ist aber eine Tradition verfassungsrechtlich wert? In welchem Verhältnis stehen Mitwirkungsrecht/Berücksichtigungsrecht der Fraktion an einem Posten zu einer selbstverordneten Bestimmung durch Wahl? Das wird das BVerfG am Mittwoch klären.

Schon 2022 musste das BVerfG über ein ähnliches Spannungsverhältnis entscheiden: Damals wollte die AfD ihre Kandidaten für den Posten eines Vize-Bundestagspräsidenten durchsetzen. Auch sie waren der Reihe nach und nach mehrmaligen Anläufen bei der Wahl im Bundestag durchgefallen. Auch damals rügte die AfD eine Verletzung ihrer (Mitwirkungs-)Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie ihres Rechts auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung und eine Verletzung des Grundsatzes der Organtreue. Sie forderte dagegen Schutzvorkehrungen ein, um eine sachwidrige Nicht-Wahl zu verhindern. Das BVerfG hielt das aber für unbegründet. Das freie Wahlrecht der Abgeordneten (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG) ginge vor. Der Mitwirkungsanspruch beschränke sich auf den Vorschlag.

Warum wurde der AfD-Mann Brandner überhaupt gewählt – und abgewählt?

Brandner wählte der Rechtsausschuss Ende 2019 ab, nachdem er ihn zuvor gewählt hatte. In geheimer Wahl hatte Brandner 2017 zunächst 19 Ja-Stimmen, zwölf Nein-Stimmen und zwölf Enthaltungen erhalten. Fraktionsspitzen im Bundestag hatten sich im Vorfeld darauf geeinigt, dass die AfD den Vorsitz im Haushaltsausschuss, im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sowie im Tourismusausschuss stellen kann.

Seine Abwahl war eine Reaktion auf verschiedene Äußerungen Brandners in seiner Zeit als Ausschussvorsitzender. So hatte er nach dem Terroranschlag in Halle auf Twitter einen Post geteilt, in dem zu lesen war, dass Politiker vor Synagogen "lungern". Dies sollte offenbar auf die öffentlichen Solidaritätsversammlungen vor jüdischen Gotteshäusern anspielen. Außerdem sprach Brandner von einem "Judaslohn", als der Sänger Udo Lindenberg das Bundesverdienstkreuz erhielt. Brandner gefiel offenbar nicht, dass Lindenberg vorher Höcke als "echten Fascho" bezeichnet hatte. 

Abgeordnete der übrigen Fraktionen im Rechtsausschuss sprachen Brandner danach die menschliche und politische Eignung für den Vorsitz im Rechtsausschuss ab. Er sei deshalb in dieser Funktion nicht tragbar. Es ging um verlorenes Vertrauen. Aber ab wann ist das der Fall?

Maßstäbe, wann ein Vorsitzender wieder abgewählt werden kann, fehlen bislang, wie überhaupt eine Regelung der Abwahl in der Geschäftsordnung. Gut möglich, dass das BVerfG hierzu Aussagen trifft. Damit würde es sich allerdings weit in das Feld des politischen Betriebs, in das Kerngeschäft der parlamentarischen Selbstorganisation, begeben.
 

Zitiervorschlag

BVerfG vor Grundsatzentscheidung: . In: Legal Tribune Online, 17.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55435 (abgerufen am: 17.09.2024 )

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