Im wahrscheinlichen Fall einer Koalition zwischen SPD und Union würde die Opposition wesentliche Kontrollrechte gegenüber der Regierungsmehrheit verlieren. Sie könnte zum Beispiel weder Untersuchungsausschüsse einsetzen noch eine abstrakte Normenkontrolle anstoßen. Über Möglichkeiten der Abhilfe wird politisch gestritten. Sebastian Roßner beleuchtet die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle.
Noch wissen wir es nicht genau, aber wahrscheinlich wird bald eine große Koalition in Deutschland die Regierung stellen, die dann im Bundestag über etwa 80 Prozent der Sitze verfügen wird. Eine derart erdrückende Mehrheit im Parlament hatte zuletzt die erste Großen Koalition von 1966, als den Abgeordneten von Union und SPD nur noch ein kleines Häuflein von Parlamentariern der FDP gegenüberstand.
Zeiten großer Koalitionen sind nicht unbedingt Zeiten schwacher Regierungskontrolle. Die erste Große Koalition ist dafür ein gutes Beispiel. Die Regierung von Bundeskanzler Kiesinger war heftiger Kritik durch die außerparlamentarische Opposition ausgesetzt. Aber es war eben keine organisierte Opposition im Parlament, die da agierte und agitierte.
Weil eine wirksame außerparlamentarische Opposition kein verlässlicher Faktor ist, sondern eher einen historischen Zufall darstellt, ist die regelmäßige Kontrolle der Regierung in allen repräsentativen Demokratien Aufgabe des Parlaments. In einer parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik, in der die Regierung vom permanenten Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängt, ist die Kontrolle der Regierung hauptsächlich Sache der Oppositionsfraktionen. Natürlich schauen auch die Regierungsfraktionen der Regierung auf die Finger, aber das geschieht meist dezent und hinter den Kulissen, nur ganz selten auf der offenen Bühne des Bundestages. Die eigentliche parlamentarische Kontrolle ist Sache der Opposition.
Das Grundgesetz (GG) enthält daher verschiedene Vorschriften, die das Mehrheitsprinzip durchbrechen und einer Minderheit der Abgeordneten das Recht geben, bestimmte Verfahren anzustoßen, um die Bundesregierung politisch und rechtlich zu kontrollieren. Drei wichtige Beispiele sind das Recht, eine Sondersitzung des Bundestagsplenums einzuberufen, Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG, die Befugnis, Untersuchungsausschüsse einzusetzen, um politisch bedeutsame Vorgänge aufzuklären, Art. 44 GG, und das Recht, ein abstraktes Normenkontrollverfahren anzustrengen, um zu verhindern, dass verfassungswidrige Gesetze in Kraft treten, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG.
Minderheitenrechte setzen 25 bis 33 Prozent der Abgeordneten voraus
Auch im Bereich des Europarechts gibt es eine ähnliche Kontrollmöglichkeit: Nach Art. 8 des "Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1a GG kann eine Minderheit des Bundestages die Subsidiaritätsklage anstrengen. Der Europäische Gerichtshof überprüft dann, ob es nötig war, bestimmte Rechtsakte auf der Ebene der Europäischen Union vorzunehmen, oder ob nicht Regelungen in den Mitgliedstaaten ausreichen. Aber bei einer Mehrheit von 80 Prozent greifen diese Instrumente nicht, da sie mindestens 25 Prozent der Abgeordneten voraussetzen. Dabei wurde das Quorum für ein Normenkontrollverfahren erst 2009 von einem Drittel auf ein Viertel der Abgeordneten abgesenkt, um einer kleinen Opposition diese Klage nicht aus der Hand zu schlagen.
Neben diesen Möglichkeiten, die Regierung aktiv zu kontrollieren, ermöglicht es das Grundgesetz einer Minderheit teilweise auch, die Mehrheit zu blockieren. Das bekannteste Beispiel ist das Erfordernis, mindestens eine Zweidrittelmehrheit zusammenzubringen, um das Grundgesetz zu ändern, Art. 79 Abs. 2 GG. Andere Beispiele für ein Quorum von zwei Dritteln sind das Recht, den Verteidigungsfall auszurufen, Art. 115a Abs. 1 S. 2 GG, oder das Verfahren, in dem die Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt werden, Art. 94 GG in Verbindung mit § 6 Abs. 5 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). In diesen Fällen gibt es also Sperrminoritäten, die bei einem Drittel plus einer Stimme liegen.
Auch der Blick in die Geschäftsordnung des Bundestages (GO BT), die die internen Abläufe im Parlament regelt, hellt das düstere Gesamtbild für eine sehr kleine Opposition nicht auf. Zwar kann eine Minderheit gemäß § 97 Abs. 1 GO BT das Verfahren des konstruktiven Misstrauensvotums gegen den Kanzler nach Art. 67 GG einleiten, aber auch dies muss eine Minderheit von mindestens einem Viertel der Abgeordneten sein.
In den Ausschüssen des Bundestages, die einen wesentlichen Teil der parlamentarischen Arbeit leisten, bedarf es wiederum eines Viertels der Mitglieder, um eine öffentliche Anhörung anzuberaumen und dafür Sachverständige und Interessenvertreter zu laden. Bestimmte Möglichkeiten in der Geschäftsordnung, ein Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen und so dafür zu sorgen, dass der Bundestag sich weniger intensiv mit der Sache befasst, sind einer Zweidrittelmehrheit vorbehalten, §§ 80 Abs. 2; 81 Abs. 1; 84 S. 1 lit. b) GO BT. Und schließlich kann mit Zweidrittelmehrheit im Einzelfall von der Geschäftsordnung abgewichen werden, § 126 GO BT.
Sebastian Roßner, Minderheitenrechte im Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 31.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9928 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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