Gastbeitrag von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Zur Lage der Justiz in Deut­sch­land

21.09.2017

2/2 Neue Gesetze lassen das Schiff der Justiz weiter sinken

Der Schuh in der Strafjustiz drückt aber noch aus einem anderen, hausgemachten Grund: Im Bereich des Strafrechts hat es in der 18. Wahlperiode neue Gesetze im Stakkato gehagelt. In Kombination mit dem Personalmangel in der Justiz wirkt sich das gerade im Strafprozess negativ auf die Verfahrensdauer aus. Immer weniger Personal soll immer mehr und immer komplexere Gesetze anwenden. Diese Gleichung kann nicht aufgehen. Die Rechtsdurchsetzung, Markenkern des materiellen Rechtsstaats, droht dabei zu verkümmern. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes quittierte das unlängst in der Bundespressekonferenz Anfang August in Berlin mit dem eindrücklichen Satz: "Neue Strafgesetze lassen das Schiff Justiz weiter sinken".

Entgegen dieser Stimme aus der Praxis wurde das StGB in den vergangenen vier Jahren mit Spezialtatbeständen aufgebläht. Dazu gehört beispielsweise die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Ich halte die Vorschrift für inhaltlich falsch, aber sie belastet zudem die Justiz völlig unnötig mit schwierigen und langwierigen Ermittlungs- und Beurteilungstätigkeiten.

Und damit nicht genug. Reflexartig wird von Teilen der Politik versucht, das Strafrecht als vermeintliche Allzweckwaffe der Politik zu benutzen: für kurzlebige Effekte statt für mehr Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit. Auf die G-20-Krawalle in Hamburg wird reflexartig mit der Forderung nach einer Erweiterung des Landfriedensbruchs reagiert. So genannte Fake News in Sozialen Netzwerken tauchen auf – ein neuer Straftatbestand der „Desinformation“ soll es richten.

Grenzen der Verfassung bewusst überdehnt

Mich beunruhigt aber nicht nur die pure Anzahl der Gesetze, sondern auch ihre Qualität. Viel zu häufig stehen sie auf verfassungsrechtlich wackeligen Füßen. Union und SPD haben in der vergangenen Wahlperiode die Grenzen der Verfassung immer wieder bewusst überdehnt.

Das gilt vor allem für die wiedereingeführte Vorratsdatenspeicherung wie auch für die Einführung von Online-Durchsuchung und Quellen-Telekommunikationsüberwachung ("Staatstrojaner") als Ermittlungsinstrumente im Strafprozess. Als Verfassungsressort kommt dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine Schlüsselfunktion und Wächterrolle zu. Und das nicht nur für "eigene" Gesetze, überprüft es doch auch Gesetzesvorschläge aus anderen Ressorts auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz.

Was aber würde unsere (Straf-)Justiz neben einer besseren personellen und technischen Ausstattung stärken? Ich meine, Bagatelldelikte müssten aus dem Strafrecht entrümpelt, die Strafverfolgungsbehörden von Nebensächlichkeiten entlastet werden.

Ich denke dabei an den Trend eines ausufernden Verwaltungs- und Wirtschaftsstrafrechts. Exemplarisch: Das Rindfleischetikettierungsgesetz. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im September 2016 eine darin enthaltene Strafvorschrift wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG gekippt. Ich denke an die sogenannten "victimless crimes": Empfinden wir Wettspiele wie private Pokerrunden gegen Geld moralisch wirklich als so anrüchig, dass wir dafür einen Straftatbestand brauchen? Ich denke an das Betäubungsmittelstrafrecht und insbesondere an die kontrollierte Freigabe von Cannabis, die sich in den Vereinigten Staaten von Amerika als Erfolgsmodell erweist.

Auch die Digitalisierung in der Justiz muss energisch vorangetrieben werden. Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs soll zwar bis 2022 abgeschlossen sein, wird aber nur ein Anfang sein. Aktenordnungen, Aktenläufe und Arbeitsprozesse müssen angepasst werden und es muss die notwendige digitale Hard- und Software vom schnellen Netz bis hin zu leistungsfähigen Rechnern vorhanden sein, damit die Chancen für schnelleres und effizienteres Arbeiten auch genutzt werden können. Denn wenn am Ende die elektronisch eingegangenen Dokumente ausgedruckt bearbeitet und anschließend zum Versand wieder eingescannt werden, dann bedeutet das mehr Aufwand statt weniger.

Also: Es gibt viel zu tun. Eine gut funktionierende Justiz mit engagierten Mitarbeitern muss uns alle Mühen wert sein.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) war von 1992 bis 1996 und von 2009 bis 2013 Bundesministerin der Justiz.

Zitiervorschlag

Gastbeitrag von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: . In: Legal Tribune Online, 21.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24641 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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