Die Justiz in Deutschland funktioniert, gerade auch im internationalen Vergleich. Aber sie ist teilweise überlastet. Das liegt nicht nur an zu wenig Ressourcen, sondern auch an zu vielen Gesetzen. Ein Kommentar der Ex-Justizministerin.
"Teilnahme einer Delegation des #BVerfG am 4. Kongress der Weltkonferenz der Verfassungsgerichtsbarkeit". Dieser Tweet poppte vergangene Woche auf meinem iPhone auf. Er rief mir – wie die Briten sagen – "the bigger picture" in Erinnerung; den langen und erfolgreichen Weg unserer (Verfassungs-)Justiz seit dem Unrechtsregime der Nationalsozialisten. Den Siegeszug von Rechtsstaat, Demokratie und einklagbaren Menschenrechten nach dem Zweiten Weltkrieg, auf den wir zu Recht stolz sind, und der für uns in Europa lange selbstverständlich war.
Dass das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) mit dieser vermeintlich unaufhaltsamen Entwicklung nicht eingetreten ist und wir diese fundamentalen Errungenschaften in Europa fortwährend verteidigen müssen, zeigen uns die bitteren Beispiele in Polen, Ungarn und der Türkei. Die Unabhängigkeit der Justiz ist augenscheinlich nicht in Stein gemeißelt. Zumindest nicht überall dort, wo wir das annahmen.
Deswegen vorweg: Die Justiz in Deutschland funktioniert, gerade im internationalen Vergleich, sehr gut. Richter und Staatsanwälte leisten einen herausragenden Job. Die Bürger in Deutschland können darauf vertrauen, einen fairen Prozess zu bekommen. Dieser Befund darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Justiz in Deutschland teilweise überlastet ist und vor großen Herausforderungen steht.
Rechtsstaatlicher Standards dürfen nicht bröckeln
Wenn beispielsweise das Amtsgericht Mitte in Berlin im Jahr 2014 einen Termin zur mündlichen Verhandlung für mehr als 2 Jahre später ansetzt, dann leidet das Vertrauen der Bürger. Wenn nach Aussage von Deutschem Richterbund und Gewerkschaft der Polizei wegen überlanger Verfahrensdauer jährlich 45 (dringend) Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen und in Wirtschaftsstrafsachen es im Verurteilungsfall wegen Verzögerung mittlerweile einen durchschnittlichen Strafrabatt von 4,1 Monaten gibt – dann geht das an das Fundament des Vertrauens in den Rechtsstaat. Wir dürfen deshalb kein Abbröckeln grundlegender rechtsstaatlicher Standards zulassen. Denn das öffnet Populisten das Feld für einfache Geländegewinne.
Besonders belastet ist derzeit die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die bei (zu) langsam zunehmender Personaldecke eine explodierende Anzahl asylrechtlicher Verfahren zu bewältigen hat. Nach Aussagen der Bundesregierung waren Mitte Juli an den deutschen Verwaltungsgerichten mehr als 283.000 Asylverfahren anhängig. Das sind nahezu doppelt so viele wie noch Ende 2016. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2017 gingen 146.000 neue Klagen ein. Im gesamten Jahr 2016 waren es 175 000.neue Klagen.
Und das gilt auch für die Strafjustiz. Staatsanwaltschaften und Strafgerichte stehen stark unter Druck. Ein Drittel der rund fünf Millionen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren im Jahr 2015 sind mit oder ohne Auflagen eingestellt worden; zehn Jahre zuvor waren es noch ein Viertel. Die durchschnittliche Verfahrensdauer eines Strafverfahrens in der ersten Instanz betrug 2016 an den Amtsgerichten durchschnittlich 3,9 Monate, an den Landgerichten 7,4. 2013 betrug sie noch 3,8 an den Amts- beziehungsweise 6,6 Monate an den Landgerichten.
Schon heute ist das Personal zu knapp: Nach Angaben des Richterbundes fehlen schätzungsweise 2.000 Staatsanwälte und Richter bundesweit. Hinzu kommt, dass auch in der Justiz die geburtenstarken Jahrgänge der 60-er Jahre erst noch in Pension gehen. In absehbarer Zeit rollt eine Pensionierungswelle auf die Justiz zu. Bundesweit scheiden bis zum Jahr 2030 vierzig Prozent aller Juristen aus dem Dienst aus.
Besonders dramatisch ist die Lage in den neuen Bundesländern, wo in der Nachwendezeit besonders viele Richter eingestellt worden sind, die jetzt die Altersgrenze erreichen. In Sachsen etwa werden von den derzeit 1.002 Juristen binnen 15 Jahren fast drei Viertel ihre berufliche Laufbahn beenden. Diese Personalverluste und das damit einhergehende Knowhow auszugleichen, wird eine Herkulesaufgabe. Nicht nur, dass die Justiz bei dem Wettbewerb um die besten Nachwuchsköpfe mit immer zahlungskräftigeren und -willigen Kanzleien konkurriert, das Gehaltsgefüge unterscheidet sich auch in den Bundesländern mit bis zu 900 Euro im Monat teilweise erheblich. In Hamburg wird das Nachwuchsproblem, wegen der Besoldung und der Standortattraktivität, deswegen vermutlich geringer ausfallen als im Saarland, dem Schlusslicht der Gehaltstabelle. Hier müssen die Länder schnell mit geeigneten Strategien für attraktive Arbeitsbedingungen nacharbeiten.
Gastbeitrag von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: . In: Legal Tribune Online, 21.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24641 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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