Europa findet im Bundestagswahlkampf kaum statt. Dabei geht es am 26. September auch um den deutschen Sitz im Europäischen Rat. Daher ist die Bundestagswahl auch ein stückweit eine Präsidentschaftswahl, wie Franz C. Mayer erläutert.
Der Europäische Rat (ER) bedarf nach wie vor der Erläuterung, steht er doch schon terminologisch im Schatten des Rates der EU ("Ministerrat") und läuft immer noch Gefahr, gleich komplett mit dem Europarat in Straßburg, einer klassischen Internationalen Organisation mit 47 Vertragsstaaten, verwechselt zu werden.
Der ER (wie Emergency Room, im Englischen bzw. auf Eurospeak ist die Rede von "EUCO") ist der jüngste Zuwachs auf der offiziellen Liste der EU-Organe in Art. 13 Vertrages über die Europäische Union (EUV), geändert mit dem Vertrag von Lissabon 2009. Er ist nicht zu verwechseln mit dem "Rat der Europäischen Union", weil er personell und funktionell mit diesem keinerlei Schnittpunkte aufweist. Dieser andere Rat, mit dem Europäischen Parlament zusammen der europäische Gesetzgeber, ist in Wahrheit viele Räte: Je nach Sachbereich kommen dort die jeweils zuständigen Fachminister zusammen, etwa im Wirtschafts- und Finanzministerrat (ECOFIN) oder im Umweltministerrat.
Der ER ist demgegenüber etwas völlig anderes. Er ist die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EU, in der Angela Merkel und Emmanuel Macron auf ihre Amtskollegen treffen, daneben ist – ohne Stimmrecht – der Kommissionspräsident Mitglied. Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es zudem einen hauptamtlichen ER-Präsidenten, derzeit der vormalige belgische Regierungschef Charles Michel.
Der Europäische Rat als kollektiver Präsident
Zurückgeführt wird der ER auf Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt 1974. Ursprünglich ging es um eine informelle Zusammenkunft, bei der man frei von Tagesordnung und Beschlussfassungen offen miteinander reden können sollte, sehr bald dann auch in einer Formation von zwei Teilnehmern (in der Regel Regierungschef und Außenminister) pro Mitgliedstaat. Dieses Informelle hat sich immer weiter verflüchtigt. Die regelmäßig zwei Treffen pro Halbjahr werden heute intensiv vorbereitet und es hat sich eine eigene ER-Handlungsform ausgeprägt, die sogenannten Schlussfolgerungen. Erstmals 1992 erwähnt, hat der ER seit dem Vertrag von Lissabon heute eine solide Rechtsgrundlage. Dies unterscheidet ihn übrigens von einem möglichen Vergleichsbeispiel, der deutschen MPK (Ministerpräsidentenkonferenz).
Ich meine, dass man den Europäischen Rat als kollektiven Präsidenten der Europäischen Union im Sinne eines Präsidialregimes interpretieren kann. Der ER ist zentraler politischer Akteur, der keine parlamentarische Verantwortlichkeit kennt. Ein Akteur, der nicht abgewählt oder abgesetzt werden kann und doch eine zentrale Machtposition im Institutionengefüge einnimmt, aber zugleich im Parlament nicht auf einer Regierungsbank sitzt. Ein Akteur, dessen unionale Legitimation nicht von anderen Akteuren abgeleitet oder abhängig ist, jedenfalls nicht auf eine über das auf Unionsebene bestehende Parlament vermittelte Legitimation zurückgreifen muss.
Aus französischer Sicht sind die Parallelen zum Staatspräsidenten in der V. Republik unübersehbar. Aus deutscher Sicht ist der Zugang zu einer solchen Präsidialkonstruktion indessen nicht ganz einfach, weil wir nicht viel Erfahrung mit Präsidialregimen haben, schon gar nicht mit erfolgreichen.
Blindstelle im deutschen Verfassungsdenken?
In Weimar kannte Deutschland zwar einen direkt gewählten Präsidenten, der eine eigenständige Rolle im politischen System spielte und dem darüber hinaus – von manchen – die Rolle zugedacht war, sogar das ganze politische System zu hüten. Dies ist indessen nicht gelungen.
Der letzte Reichspräsident, der vormalige Weltkriegsgeneral von Hindenburg, hütete die Verfassung gerade nicht, sondern lieferte sie den Verfassungsfeinden aus. Im Grundgesetz wurde 1949 aus dieser Erfahrung der Bundespräsident absichtsvoll als Gegenmodell ausgestaltet, mit deutlich zurückgenommenen Befugnissen, und eben auch nicht mehr durch eine Direktwahl legitimiert. Im deutschen Verfassungsdenken spielen Präsidialkonzepte seither eher keine Rolle mehr. Das könnte eine Blindstelle sein.
Natürlich lassen sich sofort etliche Einwände formulieren. Der Machteinwand zum Beispiel. Was kann der ER denn schon bewirken, mit seinen rechtlich unverbindlichen "Schlussfolgerungen"? In der politischen Realität ist dieses Gremium der Staats- und Regierungschefs indessen heute zunehmend oberstes Beschlussfassungsorgan mit universeller Zuständigkeit, das in Streitfragen im politischen Entscheidungsprozess der EU jedenfalls für alle Fragen im Rat, also zwischen den Mitgliedstaaten, als Letztentscheidungsgremium auftritt, aber auch zunehmend "Mikromanagement" betreibt.
ER als eigentlicher Gesetzgeber?
Und auch die europäische Gesetzgebung geht immer mehr vom ER aus. Etliche Beispiele belegen, wie Schlussfolgerungen des ER einen Gesetzgebungsfahrplan vorgeben, der in der Folge von der Europäischen Kommission, die formal das Initiativmonopol für europäische Gesetzgebung hat, abgearbeitet wird, im Zusammenwirken mit den Gesetzgebungsorganen, dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat.
In der Eurokrise seit Mai 2010 und in der anschließenden Flüchtlingskrise ab 2015 ist der ER mit Zusammenkünften in Wochenabständen als Politik- und Machtzentrum der EU besonders sichtbar geworden, dann in der Brexit-Krise als der EU-Akteur, der den Aufschub für den Austritt gestatten oder verweigern kann, und zuletzt haben sich auch in der Corona-Krise die Staats- und Regierungschefs regelmäßig im ER ausgetauscht.
Aber ist die Idee einer kollektiven Präsidialfigur überhaupt plausibel? Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es sehr wohl mehr oder weniger machtvolle Einzelakteure im ER gibt. Vieles spricht dafür, dass die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsident wichtige Figuren sind. Aber auch andere charismatische Akteure können spürbaren Einfluss entwickeln. Das droht mit der Zuschreibung "kollektiv" verdeckt zu werden. Andererseits bleibt es dabei, dass auch die Bundeskanzlerin auf die Einstimmigkeit im ER angewiesen ist und nichts durchentscheiden kann. Und soziologisch wird durchaus ein "Wir-Gefühl" im ER beobachtet, ein gewisses kollektives institutionelles Ethos, über die parteipolitischen Grenzen hinweg.
Parlaments- oder Präsidialdemokratie
Welche Folgen und Folgerungen verbinden sich nun mit der vorgeschlagenen Interpretation des ER als kollektivem Präsidenten im Sinne eines Präsidialregimes? Wahlvorgänge auf europäischer und auf nationaler Ebene erscheinen in einem deutlich anderen Licht: Für das Europäische Parlament (EP) macht es einen ganz erheblichen Unterschied, ob es Teil eines parlamentarischen Regierungssystems ist, in dem es als einziges direkt gewähltes Organ sämtliche Legitimationslasten zu schultern hat, oder ob es einem – kollektiven – Präsidenten gegenübersteht, der über eigene Legitimationsressourcen verfügt, zugleich dann aber auch einen Machtanspruch erheben und Machtansprüchen des EP entgegensetzen kann.
In der EU als Präsidialregime ist der nun bereits zweimal gerade aus Deutschland versuchte Weg, die EP-Wahlen vermittels Spitzenkandidaten zur Wahl einer parlamentarisch verantwortlichen Kommission als Regierung umzudeuten, schlicht systemwidrig. Dass der Ansatz in der Praxis nicht sonderlich gut funktioniert hat und selbst in Deutschland nicht recht angenommen wurde, dann im weiteren Verlauf bei den letzten Europawahlen auch vom Ergebnis her nicht getragen hat – die aktuelle Kommissionspräsidentin von der Leyen war ja gerade keine Spitzenkandidatin und tauchte auf keinem Stimmzettel zur Europawahl auf – könnte ein starkes Indiz für diese Systemwidrigkeit sein.
Die veränderte Verortung des EP hat auch ein entlastendes Moment. Es ist dann nicht mehr alleinzuständig für die Antwort auf den immer wieder erhobenen Demokratiedefizitvorwurf. Wenn es in der präsidial interpretierten europäischen Herrschaftsanordnung nicht mehr (nur) auf das EP ankommt, dann rücken die Legitimationsbedingungen des ER auf nationaler Ebene sehr viel klarer, aber auch dringlicher in den Blick.
Nationale Wahlen sind Europawahlen
Die Wahl der Akteure in den nationalen Wahlen ist dann viel deutlicher als Entscheidung auch über die Ausübung europäischer Herrschaftsgewalt zu verstehen – insofern eine Art europäische Präsidentschaftswahl. Es ist in Frankreich zuletzt sehr klar gewesen, dass die nationale Entscheidung über den Staatspräsidenten auch die Entscheidung über das französische Mitglied im ER ist, mit Auswirkungen auf diesen kollektiven europäischen Präsidialakteur.
Anders in Deutschland im Bundestagswahlkampf 2021. Dass die Bundestagswahl auch darüber entscheidet, wie sich der ER zusammensetzt und wer für Deutschland im ER die europäische Politik mitbestimmt, war überhaupt kein Thema. Zu Unrecht, zumal Angela Merkel das dienstälteste Mitglied im Europäischen Rat und dort zweifelsohne die bestimmende Autorität ist, um deren Nachfolge im ER es am 26. September geht.
Keine Frage, den aktuellen Kanzlerkandidaten bzw. der Kandidatin wird der Umstand in abstrakter Form bekannt sein, dass der ER Teil ihrer künftigen Aufgaben ist. Doch sind sich auch die Wählerinnen und Wählern der europaverfassungsrechtlichen Tragweite der Wahlentscheidung bewusst? Welche Ziele Armin Laschet, Olaf Scholz oder Annalena Baerbock im ER verfolgen würden und wen wir in dieser Rolle überzeugend finden, ist leider überhaupt nicht Gegenstand der deutschen Wahlkampfauseinandersetzung gewesen. Und damit auch nicht der politischen Meinungsbildung im Wahlvolk. Eine vertane Chance für die europäische Demokratie.
Autor Prof. Dr. Franz C. Mayer lehrt an der Universität Bielefeld. Er ist dort Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik.
Künftiger deutscher Sitz im Europäischen Rat: . In: Legal Tribune Online, 23.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46094 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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