Sind die Vereinigten Staaten von Europa längst Realität? Kostet mehr Integration die Demokratie? Das Forum Europa stellt sich beim 69. Juristentag den drängendsten Fragen unserer Zeit. Joachim Wieland meint, das geltende Recht kann die Krise bewältigen. Und das Volk sollte erst entscheiden, wenn die Politiker ein durchdachtes Konzept vorlegen, nicht dann, wenn die Politik selbst nicht mehr weiter weiß.
Europa braucht keine Verfassung, Europa hat bereits eine Verfassung. Der EU-Vertrag regelt nicht nur die politische Willensbildung in der Union, sondern gewährleistet ebenso wie die Europäische Menschenrechtskonvention auch Grundrechte. Diese beiden Kerngehalte machen eine Verfassung aus, auch wenn sie in Europa in Form eines Vertrages gilt.
Die Integration in der Union erfasst immer mehr Politikbereiche. Die nächsten Schritte sind der Fiskalpakt und der dauerhafte Rettungsschirm ESM. Die Währungsunion muss um eine Wirtschafts- und Fiskalunion ergänzt werden, damit der Euro dauerhaft Bestand haben kann.
Notwendig ist eine solide Haushaltspolitik in allen Staaten der Währungsunion. Rechtliche Grundlagen dafür enthält das Unionsrecht in Art. 126 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt bereits.
Es fehlt nicht an Rechtsnormen, sondern an der Durchsetzung des geltenden Rechts. Sie ist es, die in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt wurde. Deutschland und Frankreich haben sich im Jahr 2003 ohne Skrupel über den Stabilitätspakt hinweggesetzt. Andere Länder haben sich noch weniger um Stabilität gekümmert und Wachstum durch Schulden finanziert.
Kein Verlust von Demokratie
Das geltende Unionsrecht wird durch den Fiskalpakt und die Vorschriften über den Rettungsschirm fortentwickelt. Es gewinnt jedoch keine völlig neue Dimension, die mit der Verfassunggebung auf Ebene der Mitgliedstaaten vergleichbar wäre.
Die Union wird nicht zum Bundesstaat, sondern bleibt supranationale Gemeinschaft ohne Staatscharakter. Sie selbst und ihre Mitgliedstaaten sind dem Recht verpflichtet, das durch den Europäischen Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten durchgesetzt wird.
Die demokratische Legitimation des Handelns der Union gewährleisten das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente. Beide wirken in der Herstellung demokratischer Verantwortlichkeit zusammen. Europa läuft deshalb auch dann nicht Gefahr, die Demokratie zu verlieren, wenn jetzt seine Institutionen und Instrumente zur Bewältigung der Finanzkrise ausgebaut werden.
Integrationsfreundliches Grundgesetz, erlaubte Eurobonds
Das Grundgesetz bekennt sich in seiner Präambel und in Art. 23 GG ausdrücklich zur Integration Europas: Deutschland ist "von dem Willen beseelt, … als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" und wird "zur Verwirklichung eines vereinten Europas" bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirken.
Deutlicher könnte das Bekenntnis zu eine stärkeren Integration auch in einer neuen Verfassung nicht ausfallen. Deutschlands Mitwirkung an einer stärkeren Integration rührt auch nicht etwa an die Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz. Auch mit Fiskalpakt und Rettungsschirm bleibt die Bundesrepublik ein demokratischer Rechtsstaat. Das Demokratieprinzip erlaubt nicht nur die Übertragung weiterer Befugnisse auf die demokratisch legitimierte Union. Es steht auch der Ausgabe von Eurobonds nicht entgegen
Der Bundestag darf nur keine Blankovollmacht für die Schuldenpolitik anderer Staaten erteilen. Er muss jeder Aufnahme von Krediten unter der Bedingung zustimmen, dass nachweislich Konsolidierungsfortschritte gemacht werden.
Die Vergemeinschaftung von Schulden im Wege politischer Entscheidungen der Union ist wesentlich stärker demokratisch legitimiert als das aktuelle Vorgehen der Europäischen Zentralbank. Die hält sich beim Ankauf von Staatsanleihen krisenbedrohter Mitgliedstaaten zwar noch im Rahmen ihrer rechtlichen Möglichkeiten, ist aber nicht direkt vom Volk legitimiert.
Keine Verfassunggebung in Krisenzeiten
Wenn das deutsche Volk sich eine neue Verfassung geben soll, bedarf das Zeit und sorgfältiger Vorbereitung durch einen Verfassungskonvent. Dann stehen alle Grundentscheidungen des Grundgesetzes auf dem Prüfstand.
Mittelfristig kann eine neue Verfassung für Deutschland durchaus sinnvoll sein. Für die Europäische Union dürfte das nur gelten, wenn deren endgültige Rechtsform klarer geworden ist. Die Krise ist jedenfalls nicht der richtige Zeitpunkt für Verfassunggebung. Niemand deckt in stürmischer Zeit sein Haus neu ein, wenn das nicht zwingend nötig ist.
Und wer den Souverän nach seiner Zustimmung zu einer neuen Verfassung fragt, muss mit der Antwort leben – selbst wenn sie anders ausfällt als erwartet.
Der Autor Prof. Dr. Joachim Wieland, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.
Joachim Wieland, Europa am Scheideweg: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7117 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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