EuGH zum Verbot mehrfacher Strafverfolgung: Neue Wege im Euro­päi­schen Straf­recht?

von Prof. Dr. Marco Mansdörfer

29.06.2016

Ein Tatverdächtiger kann in einem anderen Schengen-Staat erneut strafrechtlich verfolgt werden, wenn die frühere Strafverfolgung ohne eingehende Ermittlungen eingestellt worden ist, so der EuGH. Marco Mansdörfer kommentiert das Urteil.

Am Mittwoch entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache Kossowski, dass ein Tatverdächtiger entgegen des Verbots der mehrfachen Strafverfolgung unter Umständen sehr wohl erneut strafrechtlich verfolgt werden kann (Urt. v. 29.06.2016, Az. C-486/14).

Art. 54 des  Schengener Durchführungsübereinkommen normiert zusammen mit Art. 50 der EU-Grundrechtscharta für die Europäische Union ein transnationales Verbot mehrfacher Strafverfolgung. Basis dieses Verbots sind das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens in eine funktionierende Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten sowie die Idee, dass in einem einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eine strafbare Tat nur ein einziges Mal verfolgt und gegebenenfalls geahndet werden darf.

Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kossowski dreht sich um die transnationale Rechtskraft eines das Ermittlungsverfahren abschließenden Einstellungsbeschlusses einer polnischen Staatsanwaltschaft, der in etwa einem  deutschen Einstellungsbeschlusses gem. § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung vergleichbar ist. Der EuGH stuft diesen Beschluss nicht als "rechtskräftige Aburteilung" ein, weil die den Kern der rechtlichen Situation bildenden Gesichtspunkte offensichtlich nicht untersucht worden seien. Die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen stelle ein Indiz für das Fehlen entsprechender Ermittlungen dar, so der EuGH.

Damit kann die Staatsanwaltschaft Hamburg, die Herrn Kossowski im zugrunde liegenden Fall eine schwere räuberische Erpressung vorwirft, trotz des eigentlich abschließenden Einstellungsbeschlusses der polnischen Kollegen ein eigenes Ermittlungsverfahren anstrengen.

Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung neu justiert

Die Entscheidung des EuGH ist im Ergebnis richtig, überrascht aber in der Begründung. Der Eintritt der Rechtskraft wird in der Regel formal mit dem Erlass einer Entscheidung verknüpft. Der Grundsatz ne bis in idem gilt, wenn der Staat mit einer Entscheidung regelmäßig zum Ausdruck bringt, dass die Sache endgültig beschieden wurde. Die Sache ist damit (von den sehr engen Wiederaufnahmegründen abgesehen) eben auch dann zu Ende, wenn sich später das glatte Gegenteil herausstellt. Eine gleichermaßen formale Betrachtung wohnt an sich dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung inne.

Der EuGH hätte das Verfahren nun einfach in dem Sinn entscheiden können, dass er entsprechenden Einstellungen generell die Rechtskraft versagt. Obwohl dies eine klare Linie gewesen wäre, entscheidet sich das Gericht dennoch gegen eine rein formale Sichtweise: Es versagt der Entscheidung die transnationale Rechtskraft, weil wesentliche Beweismittel offensichtlich nicht ausreichend gewürdigt wurden. Damit wird erstmals der Weg hin zur Prüfung der materiellen Qualität einer Entscheidung durch den EuGH geöffnet. Das Gericht ist dabei klug genug, das Ausmaß zu einer solchen Prüfung nicht allzu weit zu fassen. Es verlangt vielmehr, dass das Defizit "offensichtlich" sein muss. Was offensichtlich ist, hängt wesentlich davon ab, wie gründlich eine Sache untersucht wird.

Potential der Entscheidung im übrigen europäischen Strafrecht

Wege (und Auswege) kann die Entscheidung auch in anderen Bereichen des Europäischen Strafrechts weisen. So würde etwa bei transnationalen Haftbefehlen, bei Abwesenheitsurteilen oder bei europäischen Ermittlungsanordnungen dem bislang stark betonten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ein inhaltliches Korrektiv gegenüber gestellt. In der Vergangenheit konnte diesen Anordnungen im Wesentlichen nur der Einwand eines Verstoßes gegen den ordre public entgegen gehalten werden. Eine effektive Verteidigung war damit praktisch kaum möglich.

Mit der Rechtssache Kossowski könnte sich das ändern. Jedenfalls offensichtlich fehlerhafte Bescheide können mit dem Rechtsgedanken der neuen Entscheidung angegriffen werden. Die Anhörung des Opfers und von Zeugen sind dabei nicht die einzigen "wesentlichen Beweismittel". Was "wesentliche Beweismittel" sind, hängt entscheidend von den Eigenheiten des jeweiligen Sachverhalts und der jeweiligen Beweisführung ab. Dogmatisch bedeutet dies eine Einschränkung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bei offensichtlichen rechtsstaatlichen Defiziten – und damit den richtigen Weg zu mehr Gerechtigkeit in der Sache.

Der Autor Prof. Dr. Marco Mansdörfer ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht einschließlich Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht an der Universität des Saarlandes. Zudem ist er als selbstständiger Strafverteidiger mit einem Schwerpunkt auf Wirtschaftsstrafrecht tätig.

Zitiervorschlag

EuGH zum Verbot mehrfacher Strafverfolgung: . In: Legal Tribune Online, 29.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19834 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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