2/2: Gleichbehandlung bei Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt
Geht man alternativ davon aus, dass es sich beim Alg II nicht um Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-Richtlinie handelt, könnten – und auch dies erfragt das Landessozialgericht NRW, auf dessen Vorlagebeschluss bereits das "Dano"-Verfahren zurückging – die dann unmittelbar heranzuziehenden Gleichbehandlungsgebote aus Art. 45 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 18 AEUV der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II entgegenstehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH darf nämlich nicht mehr von dem in diesen Normen festgeschriebenen Grundsatz der Gleichbehandlung abgewichen werden, wenn es um finanzielle Leistungen geht, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen (vgl. nur die Rechtssachen "Vatsouras" und "Koupatantze", Az. C‑22/08 und C‑23/08).
Vorausgesetzt wird dazu aber, dass eine tatsächliche Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt des Mitgliedsstaates besteht. Eine solche Verbindung wird sich regelmäßig aus Vorbeschäftigungszeiten und auch aus einer ernsthaften Beschäftigungssuche über einen gewissen Zeitraum ergeben. Der Generalanwalt geht auch – quasi hilfsweise – auf diese Gesichtspunkte ein, weil er davon ausgeht, dass der EuGH die europarechtliche Qualifizierung des Alg II als Sozialhilfeleistung oder als Leistung zur Integration in den Arbeitsmarkt eventuell den nationalen Behörden und Gerichten überlassen wird.
Was, wenn Alg 2 nicht primär Sozialhilfe wäre?
Beizupflichten ist dem Generalanwalt in seiner Überlegung, dass auch andere Aspekte als die Beschäftigungssuche bei der Wertung zu berücksichtigen sind, ob eine tatsächliche Verbindung mit dem nationalen Markt besteht. Unter Hinweis auf die EuGH-Rechtsprechung verweist er insofern etwa auf den familiären Kontext oder das Bestehen enger persönlicher Bindungen.
Unterstellt also, bei dem Alg II handele es sich um eine Geldleistung im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Sozialrechtskoordinierungs-Verordnung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, wäre der durch § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II erfolgende, automatische und generelle Leistungsausschluss während der ersten drei Monate nicht europarechtskonform. Hier wird ausdrücklich der Gesichtspunkt der Unverhältnismäßigkeit der Beschränkung des Gleichbehandlungsgebots hervorgehoben, der bei Anwendung des Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-Richtlinie außer Betracht bleibt.
Ein pauschaler Leistungsausschluss wird als nicht erforderlich angesehen. Jedenfalls, so die Konsequenz, müsse das nationale Recht die Möglichkeit eröffnen, alle Gesichtspunkte, aus denen sich eine tatsächliche Verbindung des Betroffenen mit dem Aufnahmemitgliedstaat ergeben kann, zu berücksichtigen.
Nicht nur der EuGH muss entscheiden
Zwar ist es oft so, dass die Luxemburger Richter den Schlussanträgen der Generalanwälte folgen. Aber eben nicht immer. Der EuGH hat mit diesem Fall und zudem mit der weiterhin anhängigen, vom Bundessozialgericht vorgelegten Rechtssache Alimanovic (Az. C‑67/14) Gelegenheit, den europarechtlichen Rahmen für die Gewährung der Grundsicherungsleistungen an EU-Ausländer zu konkretisieren.
Es geht sowohl um grundlegende Fragen der Anwendung der Freizügigkeits-Richtlinie und der Verordnung zur Koordinierung der Sozialleistungen als auch um Detailfragen der Auslegung der jeweils einschlägigen Bestimmungen im Lichte des Primärrechts der Union in einem zunehmend durch Migration gekennzeichneten Europa.
Nicht entscheiden wird der EuGH über die daneben relevanten Fragen des deutschen Rechts, insbesondere jene, ob der Leistungsausschlusses für Migranten nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 SGB II einer Prüfung am Maßstab von Art. 1 i. V. m. Art 20 Grundgesetz standhält. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht hieraus einen als Menschenrecht geltenden Anspruch auf ein Existenzminimum hergeleitet.
Der Autor Prof. Dr. Reimund Schmidt-De Caluwe ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Schwerpunkte sind das Sozial-, das Verwaltungs- und das Umweltrecht.
Schlussanträge des Generalanwalts: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15767 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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