Die deutsche Praxis, zuziehenden EU-Bürgern für drei Monate kein Alg 2 zu gewähren, hält der Generalanwalt für rechtmäßig – andernfalls drohe eine Massenzuwanderung. Doch das muss man differenzierter sehen, meint Reimund Schmidt-De Caluwe.
Bereits vergangenes Jahr hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem vielbeachteten Verfahren entschieden, dass EU-Ausländer von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können, wenn sie im Rahmen ihres Freizügigkeitsrechts in einen anderen Mitgliedstaat ziehen, ohne sich dort ernsthaft um Arbeit zu bemühen (Urt. v. 11.11.2014, Az. C-333/13 – "Dano"). Für die deutsche Praxis relevanter ist jedoch ein zweites Verfahren, in welchem der Generalanwalt am Freitag seine Schlussanträge stellte (Az. C-299/14).
Ein spanischer Staatsangehöriger und sein minderjähriger Sohn (Kläger) zogen Ende Juni 2012 nach Deutschland, wo sich die Lebenspartnerin bereits seit einigen Monaten mit der gemeinsamen Tochter aufhielt und inzwischen einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachging. Das Jobcenter verweigerte den Klägern für die Monate August und September 2012 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) II Leistungen, weil sich diese noch keine drei Monate in Deutschland aufhielten. In seinem gestrigen Schlussantrag beurteilte Generalanwalt Wathelet dieses Vorgehen als mit dem Europarecht vereinbar.
Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit & Gleichbehandlung
Im Kern steht dabei die Frage, ob eine Einschränkung des Gleichbehandlungsgebotes durch die Drei-Monats-Frist im deutschen Sozialrecht zulässig ist. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II korrespondiert mit Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG (Freizügigkeits-Richtlinie), welcher klarstellt, dass der Aufnahmestaat nicht verpflichtet ist, Nichterwerbstätigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts Sozialhilfe zu gewähren. Generalanwalt Wathelet geht davon aus, dass es sich bei dem nach dem SGB II zu leistenden Arbeitslosengeld II um Sozialhilfe in diesem Sinne handelt und sieht daher den Anwendungsbereich der Ausnahme eröffnet.
Dies ist allerdings keineswegs unstreitig. Der EuGH hat dazu im Verfahren Dano entgegen der Interpretation des Generalanwalts gerade keine Aussage getroffen, sondern sich dort nur mit Art. 24 Abs. 1 Freizügigkeits-Richtlinie befasst. Jedenfalls sind staatliche finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeits-Richtlinie anzusehen, sodass für diese das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 45 Abs. 2 des Vertrags über die Zusammenarbeit der Europäischen Union (AEUV) uneingeschränkt gilt.
Hartz IV soll Existenz sichern und Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern
Schon nach der Zwecksetzung des SGB II erscheint recht eindeutig, dass auch das ALG II ("Hartz IV") einen zweifachen Zweck verfolgt und neben der Gewährleistung der Existenzsicherung jedenfalls auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern will. Ob für diesen Fall, wie der Generalanwalt meint, entscheidend auf die überwiegende Funktion der Leistungen abzustellen ist, wird der EuGH zu entscheiden haben.
Folgt man der Ansicht des Generalanwalts, so stellt sich die grundlegende Frage nach der Vereinbarkeit des Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie mit dem Primärrecht, also insbesondere mit Art. 18, 20, 21 und 45 Abs. 2 AEUV. Auch dies ist umstritten, wird vom Generalanwalt allerdings nicht aufgegriffen. Immerhin wird unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des EuGH konstatiert, dass die Ausnahmevorschrift vor dem Hintergrund der Bedeutung der umfassenden Gleichbehandlungsgebote eng auszulegen sei. Aber auch dann entspreche der generelle Ausschluss von Sozialhilfeleistungen in den ersten drei Monaten dem System und dem Zweck der Freizügigkeits-Richtlinie.
Nicht jede Zuwanderung ist Sozialtourismus
Diese verfolge das Ziel der Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten. Da die Mitgliedstaaten von Unionsbürgern nicht verlangen dürften, dass sie für einen Aufenthalt von drei Monaten über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen, sei es legitim, dass den Mitgliedstaaten auch nicht auferlegt werde, während dieses Zeitraums die Kosten für sie zu übernehmen. "Nähme man nämlich das Gegenteil an und räumte Unionsbürgern […] das Recht auf Sozialhilfeleistungen ein, bestünde die Gefahr, dass dadurch eine Massenzuwanderung ausgelöst wird, die eine unangemessene Inanspruchnahme der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit nach sich ziehen könnte", heißt es in den Schlussanträgen.
Die Schlussfolgerung wirkt bestechend und bedient gemeinhin bekannte Argumentationsmuster. Diesem Autor scheint sie jedoch zur Legitimation einer umfassenden Aushebelungen der primär- und sekundärrechtlichen Gleichbehandlungsgebote zu pauschal. Ist das Ziel der Ausnahmebestimmung, die Sozialsysteme der Nationalstaaten zu schützen, wären jedenfalls typisierend Einzelfallkonstellationen aus der Perspektive der Erforderlichkeit zu betrachten. Gerade der vorliegende Fall weist in dieser Hinsicht Besonderheiten auf, die in der Sichtweise des Generalanwalts nicht in den Blick kommen können, wie insbesondere die Situation der Familienzusammenführungen, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung der Partnerin oder die Integration der Kinder im Schulumfeld. Insoweit lässt sich die Frage stellen, ob dies das typische Bild der durch erhoffte Sozialleistungen getriebenen Massenzuwanderung ist.
Schlussanträge des Generalanwalts: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15767 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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