2/2: Generalanwalt wollte Pflicht zur Humanität
Der Generalanwalt regte in seinen Schlussanträgen vom 7. Februar 2017 eine kleine Revolution an: Er vertrat die Ansicht, die Syrer fielen mit ihrer Situation unter das Unionsrecht und den Visakodex. Bei der Erteilung von Visa führten die Mitgliedstaaten Unionsrecht durch und seien daher verpflichtet, die in der Charta garantierten Rechte zu wahren.
Ein Mitgliedstaat könne verpflichtet sein, Drittstaatenangehörigen ein Visum zu erteilen. Das gelte dann, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass den Menschen ohne das Visum Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung drohten. Das folge aus Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Gebe es diese Pflicht zur Visumserteilung nicht, werde den Drittstaatenangehörigen das Recht vorenthalten, in der Europäischen Union um internationalen Schutz zu ersuchen.
Für den Generalanwalt stand fest, dass die Antragsteller in Syrien zumindest der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung von extremer Schwere ausgesetzt waren, die eindeutig unter das Verbot nach Art. 4 der Charta falle. Insbesondere in Anbetracht der Informationen, die über die Lage in Syrien verfügbar seien, dürfe der belgische Staat nicht den Schluss ziehen, dass er davon befreit sei, seiner positiven Verpflichtung nach Art.4 der Charta nachzukommen.
Anträge fallen nicht unter Visakodex
Diesen Erwägungen folgt der EuGH schon in der Grundannahme nicht: Das Gericht weist in seinem Urteil zunächst darauf hin, dass die Regelungen zum Visakodex lediglich geplante 90-tägige Aufenthalte innerhalb von insgesamt 180 Tagen beträfen.
Die syrische Familie habe ihre Anträge auf Visa aus humanitären Gründen aber in der Absicht gestellt, in Belgien Asyl und somit einen nicht auf 90 Tage beschränkten Aufenthaltstitel zu beantragen. Demzufolge sei der Visakodex gar nicht anwendbar.
"Zwar ist die Auffassung des EuGH, der Visakodex regele nur Aufenthalte von bis zu 90 Tagen Dauer, zutreffend, so dass das Urteil insofern folgerichtig erscheint", sagt Marcel Keienborg, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Asylrecht und Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Allerdings diene der Visakodex nicht nur der Festschreibung, sondern auch der Weiterentwicklung einer europäischen Visumpolitik. „Dabei müssen auch Grundrechte eine Rolle spielen. Indem der EuGH sich gar nicht mit diesem Aspekt auseinandergesetzt zu haben scheint, hat er leider die Chance verpasst, grundrechtsorientierte Maßstäbe für diese Weiterentwicklung aufzustellen."
Die Luxemburger Richter erklärten indes, es gebe bisher keine europäischen Regelungen für Visa oder Aufenthaltstitel für einen langfristigen Aufenthalt für Drittstaatenangehörige aus humanitären Gründen.
Daher seien die Anträge der syrischen Familie allein nach nationalem Recht zu beurteilen, auch die Vorschriften der Charta fänden keine Anwendung, so der EuGH. Eine Möglichkeit zu schaffen, durch Visumsanträge internationalen Schutz im Mitgliedstaat ihrer Wahl zu erreichen, würde das System der nationalen Regelungen beeinträchtigen.
Tanja Podolski, EuGH zur Erteilung von Visa für Drittstaatenangehörige: . In: Legal Tribune Online, 07.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22292 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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