Wer als erster ein Kartell offenlegt, geht als Kronzeuge straffrei aus – vorausgesetzt, er hat sich an die richtige Stelle gerichtet. Wie leicht das in Europa misslingen kann, zeigt ein Urteil des EuGH gegen die DHL. Von Ulrich Soltész.
Das heute ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Fall DHL Express (Az. C-428/14) illustriert die Tücken der sogenannten Kronzeugenregelung im Kartellrecht. Nach dieser Regelung kann ein Unternehmen, das als erstes ein Kartell bei der zuständigen Wettbewerbsbehörde anzeigt, einer Geldbuße wegen seiner eigenen Beteiligung an dem Kartell entgehen.
In den letzten Jahrzehnten sind Kronzeugenregelungen zum wichtigsten Ermittlungsinstrument der Kartellbehörden geworden. In etwa 90 Prozent aller Fälle werden Kartelle mit Hilfe von Kronzeugen aufgedeckt.
Mit einem Kronzeugenantrag – auch leniency application genannt – können sich Unternehmen einen beachtlichen Strafnachlass verdienen, der oft zwei- bis dreistellige Millionenbeträge erreicht. Vorbild für das Kronzeugensystems ist, wie oft im Kartellrecht, das System der USA. Mittlerweile bestehen Kronzeugenregelungen auf EU-Ebene und in praktisch allen EU-Mitgliedstaaten.
Race for Leniency
Entscheidung für die Höhe des Bonus ist vor allem der Zeitpunkt des Kronzeugenantrags. Wer am schnellsten ist, bekommt den höchsten Bußgeldnachlass. Während sich der "first in" bei diesem Windhunderennen komplette Immunität verdienen kann, erhalten der Zweite und alle Weiteren nur noch deutlich geringere Abschläge.
Besonders wichtig ist hierbei die Vollständigkeit des Kronzeugenantrages. Wird nur ein Teil des Kartells zugestanden und andere Teile "vergessen", so kann die Bußgeldermäßigung versagt werden. Wenn sich die Kartellabsprache also auf drei Produktmärkte bezog, der Kronzeuge aber nur zwei davon aufdeckt, so bekommt er möglicherweise gar keine Ermäßigung. Damit soll eine Salamitaktik vermieden werden.
Das hört sich alles recht einfach an. Für Verwirrung sorgt allerdings das komplexe Zuständigkeitssystem im EU-Kartellrecht. Denn im Europäischen Netzwerk der Kartellbehörden (ECN) sind sowohl die Europäische Kommission also auch die nationalen Kartellbehörden, wie z.B. das Bundeskartellamt, für die Verfolgung von Kartellverstößen nebeneinander berufen.
Zuständigkeitswirrwarr im ECN
Aufgrund dieser Parallelzuständigkeit empfiehlt es sich grundsätzlich, Kronzeugenanträge bei allen Kartellbehörden zu stellen, die irgendwie in Betracht kommen. Denn es gibt gerade keinen One-stop-shop; ein Kronzeugenantrag, der beispielsweise nur bei der Europäischen Kommission gestellt wurde, führt nicht automatisch zu einem Bußgeldnachlass bei einer nationalen Behörde.
Dieses System kann zu bösen Überraschungen führen. Denn wenn die Kommission den Fall nicht aufgreift, aber eine nationale Behörde, bei der kein Kronzeugenantrag gestellt wurde, den Fall weiterverfolgt, so wird diese regelmäßig keine Bußgeldreduzierung gewähren.
Im nun entschiedenen EuGH-Fall hatte DHL sowohl einen Kronzeugenantrag bei der Kommission als auch einen Kurzantrag bei der italienischen Kartellbehörde wegen wettbewerbsbeschränkender Absprachen im Frachtgeschäft gestellt. Nach den Feststellungen des Urteils reichte der Antrag vor der Kommission allerdings weiter als jener vor der italienischen Behörde. Denn Letzterer bezog sich nur auf den Luft- und Seefrachttransport, während der bei der Kommission gestellte Antrag drei Transportwege, also Luft-, See- und Straßengütertransport, umfasste.
In der Folge wurde der Fall verwirrend. Denn die Kommission entschied sich – aus welchen Gründen auch immer – nur den Verstoß betreffend den Luftfrachtbereich zu ahnden. DHL gewährte sie insoweit einen vollständigen Geldbußen-Erlass. Die Bereiche See- und Straßengütertransport behandelte die indessen nicht.
Die italienische Behörde verhängte sodann eine Geldbuße wegen des übrig gebliebenen Verstoßes im Straßengütertransport. Von dieser stellte sie DHL aber nicht frei, weil der bei ihr eingegangene Kronzeugenantrag des Unternehmens diesen Bereich nicht mitumfasst hatte. Da der Hinweis später nachgeholt wurde, erhielt DHL zwar noch ein Strafabschlag – in den Genuss der vollen Bußgeldfreiheit kam jedoch ein anderes Kartellmitglied, das sich nach der ersten, aber vor der zweiten Anzeige von DHL bei der italienischen Kartellbehörde hinsichtlich der Absprache im Straßengütertransport gemeldet hatte.
EuGH-Urteil zu kartellrechtlichen Selbstanzeigen: . In: Legal Tribune Online, 20.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18208 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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