EuGH-Urteil zu kartellrechtlichen Selbstanzeigen: Den Zacken aus der Krone

von Dr. Ulrich Soltész

20.01.2016

2/2: Der EuGH hilft dem Kronzeugen nicht

DHL wendete sich gegen die Entscheidung der italienischen Behörde. Das Unternehmen meinte, die italienische Wettbewerbsbehörde hätte berücksichtigen müssen, dass es bei der Kommission einen umfassenden Antrag gestellt hatte, der alle drei Transportwege, also auch den Straßengüterverkehr, abgedeckt hatte. Dies sei vor allem deshalb geboten gewesen, weil der bei der italienischen Behörde gestellte "Kurzantrag" auf dem vom ECN im Jahr 2006 geschaffenen Kronzeugenregelungsmodell beruhte, das gerade der einheitlichen Anwendung des Kronzeugensystems innerhalb des ECN dienen soll.

Der EuGH konnte - oder wollte - DHL jedoch nicht helfen. Er betonte, dass die nationalen Kartellbehörden in der Ausgestaltung ihrer Kronzeugensysteme frei seien. Bei dem ECN-Modell handele es sich nur um "soft law" ohne Bindungswirkung. Es bestehe daher "kein rechtlicher Zusammenhang" zwischen dem bei der Kommission und dem in Italien gestellten Antrag.

Die dortige Kartellbehörde sei insbesondere nicht verpflichtet gewesen, den italienischen Kurzantrag im Licht des Antrags in Brüssel zu beurteilen. Sie sei auch nicht gehalten gewesen, die Kommission zu kontaktieren, um Informationen über den Gegenstand und die Ergebnisse des bei dieser gestellten Antrags zu erhalten.

Folgerungen für die kartellbußgeldrechtliche Praxis

Aus Sicht der meisten Beobachter dürfte dieses Ergebnis wenig überraschend sein. Der EuGH zieht sich auf den formalen Standpunkt zurück, dass die Kronzeugenregelungen der Union und der Mitgliedstaaten unabhängig voneinander sind. Dies ist sicher nicht unrichtig, zumal die Mitgliedstaaten stets auf ihre Kompetenz zur Ausgestaltung des nationalen Verfahrensrechts pochen. Man hätte sich als Rechtsanwender aber sicherlich eine nahtlosere und reibungslosere Zusammenarbeit im Netzwerk gewünscht.

Vor allem in den Fällen, in denen ein Kronzeuge einen Verstoß gegenüber einer Netzwerkbehörde komplett offenbart, ist es schwer verständlich, dass er hierfür nicht belohnt wird, nur weil der Fall zufällig bei einer anderen Netzwerkbehörde landet.

Das Urteil zeigt, dass das Stellen von Kronzeugenanträgen in Europa eine anspruchsvolle Aufgabe ist. Die beteiligten Unternehmen und ihre Anwälte müssen äußerst vorsichtig durch das Minenfeld ECN navigieren, in dem die Arbeitsteilung tückisch ist und zu üblen Überraschungen führen kann.

Um auf der sicheren Seite zu sein, müssen die Anwälte des Unternehmens möglichst umfassende und weitreichende Kronzeugenanträge in sämtlichen potentiell betroffenen Ländern stellen – und auf EU-Ebene. Ein solcher Rundumschlag führt natürlich zu mehr Verwaltungsaufwand – vor allem bei den Kartellbehörden – und trägt zur Effizienz des Gesamtsystems nicht gerade bei.

Der Autor Rechtsanwalt Dr. Ulrich Soltész ist Partner bei Gleiss Lutz in Brüssel. Er arbeitet seit rund 20 Jahren im Europäischen Wettbewerbsrecht, insbesondere im Kartell- und Beihilferecht. 

Zitiervorschlag

EuGH-Urteil zu kartellrechtlichen Selbstanzeigen: . In: Legal Tribune Online, 20.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18208 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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