EU-Kommission plant Mehrwertsteuerreform: Ende eines jahr­zehn­te­langen Pro­vi­so­riums?

von Prof. Dr. Dennis Klein

10.10.2017

Den EU-Mitgliedstaaten entgehen durch Mehrwertsteuer-Karussells jedes Jahr Milliarden. Nun will die Kommission das System grundlegend reformieren und so die Lücke für Kriminelle schließen.

Die Mehrwertsteuer gehört mit einem europaweiten Aufkommen von rund 1 Billion Euro pro Jahr zu den wichtigsten Steuerarten. Nur müssten es nach Kommissionsschätzung noch 170 Milliarden Euro mehr sein. Allein 50 Milliarden Euro sollen den Mitgliedstaaten Jahr für Jahr durch kriminelle sogenannte Karussellgeschäfte entgehen. Die weiteren Milliarden ergeben sich als Mehrwertsteuerlücke durch Irrtümer, Fehldeklarationen und Vollzugsdefizite der kaum noch überschaubaren Mehrwertsteuerbürokratie. Dem möchte die EU-Kommission jetzt mit der nach eigener Aussage "größten Mehrwertsteuerreform seit einem Vierteljahrhundert" einen Riegel vorschieben.

Die in Deutschland Umsatzsteuer genannte Mehrwertsteuer funktioniert vereinfacht nachfolgendem Schema: Ein Unternehmer schlägt auf den Nettopreis seiner Ware oder Dienstleistung die Umsatzsteuer auf, der Kunde zahlt den Bruttobetrag und der Unternehmer führt die eingenommene Umsatzsteuer an das Finanzamt ab. Wenn der Kunde selbst ein Unternehmer ist, darf er die an den Lieferanten mitbezahlte Umsatzsteuer seinerseits als Vorsteuer abziehen. Bei der Weiterlieferung an seinen Kunden muss er dementsprechend nur den Differenzbetrag an sein zuständiges Finanzamt abführen.

Über beliebig viele Produktions- bzw. Handelsstufen wird die Steuer also immer auf den Kunden abgewälzt und jeweils bezogen auf den pro Stufe geschaffenen Mehrwert an das Finanzamt abgeführt. Daher auch der Name Mehrwertsteuer.

Solange der Kunde ein zum Vorsteuerabzug berechtigter Unternehmer ist, bedeutet die Mehrwertsteuer für ihn nur einen durchlaufenden Posten in seiner Buchhaltung bzw. auf seinem Bankkonto. Erst der Endverbraucher als letztes Glied in der Handelskette kann die mitberechnete Umsatzsteuer nicht als Vorsteuer abziehen und ist wirtschaftlich mit ihr belastet. Dieser Effekt ist beabsichtigt, da letztlich der Konsum von Gütern und Dienstleistungen besteuert werden soll.

Wie ein Zollsystem ohne Zollkontrollen

Dieses Verbrauchsbesteuerungsprinzip funktioniert problemlos innerhalb eines Staates. Die Schwierigkeiten fangen aber bei grenzüberschreitenden Lieferungen an, wenn unterschiedliche Steuertatbestände und Steuersätze zusammentreffen. Zur Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes musste die europäische Mehrwertsteuersystemrichtlinie hierfür 1993 eine Lösung finden, die zugleich die nationalen Steuerinteressen berücksichtigte.

Geschaffen wurde zunächst eine provisorische Übergangslösung. Als Fernziel schwebte Experten zwar schon damals eine am Bestimmungslandprinzip ausgerichtete harmonisierte Umsatzbesteuerung vor. Hierzu waren die Finanzverwaltungen seinerzeit jedoch weder Willens noch technisch in der Lage. Die Besteuerung machte faktisch an der Grenze Halt.

Stattdessen ist der grenzüberschreitende Umsatz in zwei Vorgänge aufgespalten worden, nämlich in eine steuerfreie grenzüberschreitende Lieferung im Exportstaat und in einen steuerpflichtigen grenzüberschreitenden Erwerb im Importstaat. Vergleichbar einem Zollsystem – nur ohne Zollkontrollen.

Diese fehlenden Kontrollen wirkten freilich wie eine Einladung an Kriminelle. Schon legendär und bis heute nicht wirklich in den Griff bekommen sind hierbei die grenzüberschreitenden "Karussellgeschäfte". Diese nutzen gezielt die Kontrolldefizite aus. Die Finanzverwaltung ist nämlich zum einen im weitgehend automatisierten Umsatzsteuerverfahren auf die Selbstdeklaration des Unternehmers angewiesen und muss dessen Angaben zunächst einmal Glauben schenken. Zum anderen lassen sich die Warenbewegungen mangels Grenzkontrollen nur eingeschränkt nachverfolgen.

Finanzämter als Selbstbedienungsläden für Steuerhinterzieher

Bei einem typischen Karussellgeschäft werden zwischen mehreren Unternehmern grenzüberschreitend Waren im Kreis geliefert, kehren also letztlich zum Ausgangslieferanten zurück. Bei korrekter steuerlicher Deklaration und Abführung hätten die Beteiligten keinen Vorteil. Aus den Eingangsrechnungen stünde ihnen die Vorsteuer zu, aus den Ausgangsrechnungen müssten sie Umsatzsteuer an das Finanzamt abführen. Mit Ausnahme indes der grenzüberschreitenden Lieferung. Bei dieser gibt es nur die Vorsteuererstattung, d. h. hier zahlt umgekehrt das Finanzamt an den Unternehmer.

Zwar müsste sich die Steuererstattung durch die Umsatzsteuer des folgenden Unternehmers wieder ausgleichen. Wenn aber einer der im Karussell beteiligten Unternehmer die geschuldete Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abführt, dann reißt aus Sicht des Fiskus die Steuerkette. Dann hat der Staat im Ergebnis einmal zu viel Vorsteuer erstattet.

Ein solcher ausfallender Unternehmer wird auch als "missing trader" im Karussell bezeichnet. Als missing trader lässt sich mühelos eine Briefkastengesellschaft oder mitunter auch ein ahnungsloser Strohmann installieren. Je mehr Unternehmer in das Karussell eingebunden werden, desto leichter lassen sich außerdem Spuren verwischen.

Vielfach agieren die eigentlichen Initiatoren des Karussellgeschäfts auch gar nicht selbst als Unternehmer, sondern schalten Treuhänder oder Strohmänner dazwischen. Die Finanzverwaltung hat in dem automatisierten Massenverfahren der Umsatzsteuer Schwierigkeiten, zwischen den hunderttausenden Steuermeldungen ehrlicher Unternehmer derartige Karussellgeschäfte herauszufinden.

Zitiervorschlag

EU-Kommission plant Mehrwertsteuerreform: . In: Legal Tribune Online, 10.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24935 (abgerufen am: 07.11.2024 )

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