Gutachter und Erzbistums-Anwalt zur Kölner Missbrauchsstudie: "Wer das neue Gut­achten liest, weiß genau, wer wofür Ver­ant­wor­tung trägt"

Interview von Pia Lorenz

15.03.2021

Am 18. März wird das neue Gutachten zum Umgang des Bistums Köln mit sexuellem Missbrauch vorgestellt. Was es anders macht als die erste Studie und warum die nicht im Internet landen dürfe, erklären Bistumsanwalt Brennecke und Gutachter Gercke.

Das Erzbistum Köln teilte Ende Oktober mit, dass ein Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zum Umgang der katholischen Kirche mit sexuellem Missbrauch nicht veröffentlicht wird. Seitdem steht Erzbischof Rainer Maria Woelki unter Verdacht, etwas zu vertuschen. Die Studie sollte ausdrücklich Verantwortliche im Hinblick auf den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs identifizieren und benennen. Trotzdem haben Sie, Herr Dr. Brennecke, ebenso wie der Äußerungsrechtler Gernot Lehr von Redeker Sellner Dahs, als Berater des Bistums die Veröffentlichung verhindert. Warum?

Dr. Carsten Brennecke: Methodische Mängel haben die Veröffentlichung des WSW–Gutachtens verhindert. Der Vertuschungsvorwurf gegenüber Kardinal Woelki war dabei nie berechtigt:. Das Erzbistum wollte immer, dass ein Gutachten veröffentlicht wird, in dem, soweit zulässig, Ross und Reiter namentlich benannt werden. Die Veröffentlichung des Gutachtens der Kanzlei WSW war jedoch rechtlich schlicht nicht möglich.

Aus äußerungsrechtlichen oder aus anderen Gründen?

Brennecke: Bei unserer Prüfung des WSW–Gutachtens hielten wir die äußerungsrechtlichen Mängel des WSW-Gutachtens für so schwerwiegend, dass eine Veröffentlichung rechtswidrig gewesen wäre. So waren Personen vorher nicht ordnungsgemäß mit allen Vorwürfen konfrontiert worden, die ihnen in dem Gutachten gemacht werden, und hatten nicht hinreichend Gelegenheit, sich zu allen Vorwürfen zu äußern. Entlastende Stellungnahmen wurden teilweise unzulässig verkürzt. Weitere Mängel kamen hinzu.

Dr. Carsten Brennecke Wegen dieser äußerungsrechtlichen Bedenken haben wir eine methodische Überprüfung angeregt. Die Strafrechtsprofessoren Prof. Dr. Matthias Jahn und Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Streng haben das Gutachten dann systemisch auf die Einhaltung rechtswissenschaftlicher Standards hin überprüft. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die handwerklichen Mängel so grundlegend sind, dass es keine geeignete Grundlage für die Benennung von Verantwortung ist. Deshalb wurde es nicht veröffentlicht.

Jahn und Streng bemängeln u.a., dass unklar ist, weshalb bestimmte Fälle als Stichprobe vorgestellt wurden, Fakten nicht von Bewertungen getrennt wurden, die WSW-Anwälte auf eigene Sachkunde statt auf forensische Gutachter setzten und stellenweise nicht wissenschaftlich neutral und objektiv begutachteten. Zudem bleibt der Inhalt zentraler Begriffe wie "Pflichtwidrigkeit", "sexueller Missbrauch" oder "Beschuldigter" unklar.

"Wie eine Compliance-Untersuchung im Unternehmen, aber mit zwei Kirchenrechtlern"

Der guten Ordnung halber: WSW weist die Vorwürfe zurück und erklärt ihrerseits, das Gutachten von Jahn und Streng leide seinerseits unter "methodischen und anderen schwerwiegenden Fehlern"  und gehe von einem falschen Auftrag für WSW aus. Herr Professor Gercke, Ihre Kanzlei hat laut dem Erzbistum nun für das neue Gutachten den gleichen Auftrag wie die Kanzlei WSW. Was machen Sie anders?

Prof. Dr. Björn Gercke: Zunächst mal muss man festhalten, dass Herr Jahn und Herr Streng wohl unstreitig zu den führenden deutschen Strafrechtswissenschaftlern gehören. Herr Jahn hat als Richter am OLG überdies noch einmal einen besonderen Blick auf die Dinge und beide sind auch als Experten in Gesetzgebungsverfahren vielfach vom Deutschen Bundestag zu Rate gezogen worden.

Aber abgesehen hiervon: Es geht, um das noch einmal deutlich zu sagen, um ein juristisches Gutachten, das juristische Maßstäbe anlegt. Es soll Verantwortliche benennen, die im Umgang mit Missbrauchs- und Missbrauchsverdachtsfällen Pflichten verletzt haben, z.B. Meldungen von Fällen nach Rom versäumten. Wir als Wirtschaftstrafrechtler haben eine ähnliche Herangehensweise wie bei einer Compliance-Untersuchung im Unternehmen gewählt. Wir haben uns zunächst die juristisch üblichen Fragen gestellt: Wer ist verantwortlich, wie sind die Pflichtenkreise, hat jemand seinen Pflichtenkreis verletzt? Wenn ja, gibt es einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund, zum Beispiel einen unvermeidbaren Verbotsirrtum – eine ähnliche Norm wie § 17 Strafgesetzbuch gibt es auch im kirchlichen Recht.

Wir haben alle sog. Interventionsakten, also 236 Fälle, analysiert und dann weitere Unterlagen zugezogen. Wir haben zunächst potenzielle Pflichtverletzungen ausgemacht, die wir anschließend in mehreren Runden mit unterschiedlichen Personen gefiltert und verifiziert haben. Die noch lebenden Verantwortungsträger wurden dazu befragt und ihnen wurde ordnungsgemäß rechtliches Gehör gewährt, also auf der Grundlage von Wortlautprotokollen der Gespräche, aufgrund derer wir von einer Pflichtverletzung ausgingen. Wir haben von vielen Beteiligten zu vielen Vorgängen viel Input bekommen - auch rechtliche Stellungnahmen von mutmaßlich Verantwortlichen, die zum Beispiel erläutert haben, warum aus ihrer Sicht gar keine Pflichtverletzung vorgelegen habe.

Danach haben wir die Beweise gewürdigt, Tatsachen als solche dargestellt und von Indizien und Bewertungen unterschieden. Wir haben auch klar herausgestellt, warum wir bestimmte Fälle ausführlicher darstellen als andere. Das sind natürlich eigentlich Selbstverständlichkeiten, die aber im Vergleich zu dem ersten Gutachten leider betont werden müssen.

Wieso hat Ihre Kanzlei eigentlich den Auftrag erhalten? Sie sind ja nun keine Kirchenrechtler? 

Gercke: Die Vorgänge wurden am weltlichen und am kirchlichen Recht gemessen, zudem auch am sog. kirchlichen Selbstverständnis.

Prof. Dr. Björn Gercke An diesen Aspekten sind der kirchenrechtliche Wissenschaftler Prof. Dr. Dr. Helmuth Pree und der Anwalt für Kirchenrecht Dr. Stefan Korta maßgeblich beteiligt. Herr Pree, studierter Jurist und Theologe, ist eine Koryphäe im Kirchenrecht, Herr Korta war früher für das Erzbistum München tätig und ist zudem als Anwalt für Kirchenrecht seit vielen Jahren mit Fällen des Missbrauchs in der katholischen Kirche befasst. Beide Kirchenrechtler haben unser Gutachten nicht nur einfach gegengelesen oder "verprobt", sondern waren direkt in seine Erstellung eingebunden.

"Die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung gelten"

Und wie wollen Sie den äußerungsrechtlichen Bedenken begegnen? Warum sollten die namentlich als verantwortlich Benannten, die sich im Vorfeld gegen die Veröffentlichung des WSW-Gutachtens wehrten, nicht auch die Veröffentlichung des neuen Gutachtens verhindern wollen?

Gercke: Wir haben zunächst alles analysiert und verfasst. Dann haben wir, beraten von Dr. Brennecke, die Namen von Personen auf unteren Hierarchieebenen anonymisiert, die nicht so sehr in der Öffentlichkeit stehen, dass ihre namentliche Benennung gerechtfertigt wäre.  

Brennecke: Personen, die als verantwortlich für Pflichtverletzungen ausgemacht werden, werden namentlich genannt, das ist ja Aufgabe des Gutachtens. Das ist aber nur dann zulässig, wenn die Sorgfaltspflichten nach den sog. Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung eingehalten werden.

Ein Erzbistum, das ein Gutachten über eigene Verfehlungen in Auftrag gibt, soll denselben Anforderungen unterliegen wie die Presse, wenn sie über Personen berichtet, die im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben?

Brennecke: So ist es, wenn das Gutachten veröffentlicht werden soll, und das auch noch im Internet. Die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung spiegeln eine Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Genannten und dem öffentlichen Informationsinteresse wider. Auch der Bundesgerichtshof äußert in einer Entscheidung, dass diese Grundsätze auch auf Private anwendbar sind, wenn die Veröffentlichung presseähnliche Auswirkungen hat.

Wäre das Gutachten also rein intern geblieben, wie das bei den allermeisten Untersuchungen von Fehlverhalten der Fall ist, wäre eine namentliche Benennung der Verantwortlichen kein Problem gewesen.

"Ein Erzbischof darf namentlich benannt werden"

Auch im Rahmen der Verdachtsberichterstattung darf man aber, wenn es wie hier um mögliche Verfehlungen im nicht rein privaten Bereich, sondern in der sog. Sozialsphäre geht, Personen namentlich benennen, die eine gewisse Öffentlichkeitswirkung haben oder Personen der Zeitgeschichte sind.

Brennecke: Das ist richtig. Ein Erzbischof ist z.B. eine in der Öffentlichkeit bekannte Person, die man bei einem mehrfachen Fehlverhalten namentlich benennen darf. Bei internen Mitarbeitern, wie Inhouse-Juristen oder Personalleitern, ist das nicht der Fall. Hier wäre eine namentliche Benennung in einem öffentlich abrufbaren Bericht rechtlich bedenklich.

Wann steht jemand in diesem Sinne in der Öffentlichkeit? Nur dann, wenn er schon in dem untersuchten Zeitraum eine Person der Zeitgeschichte war oder auch dann, wenn er erst später in die Öffentlichkeit gerückt ist, wie zum Beispiel Dr. Stefan Heße, ab 2006 Personalchef und von 2009 bis 2015 Generalvikar in Köln und heute Erzbischof in Hamburg?

Brennecke: Für eine namentliche Benennung reicht es aus, dass jemand irgendwann, also auch nach seiner Tätigkeit im untersuchten Zeitraum, eine herausragende Position innehat oder -hatte. Wenn jemand in das Licht der Öffentlichkeit tritt, verringert sich sein Schutzniveau - auch für Dinge, die vor dieser Zeit geschehen sind.

Um es noch einmal klarzustellen: Personen, die nach Ihrer Auffassung nicht in diesem Sinne Personen der Zeitgeschichte waren oder später wurden, werden also im neuen Gutachten nicht namentlich, sehr wohl aber mit ihren Funktionen benannt?  

Brennecke: So ist es. Eine Funktionsbeschreibung ohne Namensnennung sorgt dafür, dass die Personen für die breite Öffentlichkeit nicht persönlich erkennbar sind.  Die Funktionsbezeichnung garantiert aber, dass ein Fehlverhalten systemintern dennoch klar zugeordnet werden kann. Wer das Gutachten von Professor Gercke liest, der weiß hinterher haargenau, was geschehen ist und wer dafür die Verantwortung trägt.

WSW-Gutachten: "Eine Veröffentlichung im Internet kann es nicht geben"

Auch das Gutachten von WSW soll nun doch öffentlich zugänglich gemacht werden – während das Angebot der Kanzlei, es auf eigenes Risiko auf der eigenen Webseite zu veröffentlichen, vom Bistum abgelehnt wurde. Wieso?

Brennecke: Eine Veröffentlichung des WSW-Gutachtens im Internet wäre wegen angesichts der entstehenden Prangerwirkung der namentlich Genannten wegen der äußerungsrechtlichen Mängel unzulässig, egal, ob dies auf der Webseite des Erzbistums Köln oder auf der Webseite der Kanzlei WSW geschähe. Eine solche kann und wird es im Internet nicht geben.

Angesichts des großen öffentlichen Informationsinteresses ist es aber möglich, interessierten Lesern einen Vergleich des WSW-Gutachtens mit dem Gutachten von Professor Gercke zu ermöglichen. Das WSW-Gutachten kann dann, zeitnah nach der Veröffentlichung des neuen Gutachtens, vor Ort beim Erzbistum gelesen, aber es dürfen keine Fotos oder Protokolle angefertigt werden – so wird es keine Veröffentlichung mit Prangerwirkung geben. Aber jeder, inklusive Betroffenen und Journalisten, kann sich vergewissern, dass das neue Gutachten mindestens genauso viele Akteure und Fälle namentlich benennt wie das der Kanzlei WSW.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

 
Dr. Carsten Brennecke ist Partner der Kanzlei Höcker in Köln. Er berät Unternehmen, Verbände und Personen des öffentlichen Lebens im Presserecht. 
Prof. Dr. Björn Gercke ist Partner der auf das Strafrecht spezialisierten Kölner Kanzlei Gercke Wollschläger. 

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, Gutachter und Erzbistums-Anwalt zur Kölner Missbrauchsstudie: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44499 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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