Ab Mittwoch beraten die Mitglieder des Europarates in Brighton über die Zukunft des EGMR. Offiziell geht es um die Weiterentwicklung eines der europäischen Vorzeigeprojekte. Tatsächlich steht zur Debatte, ob das Gericht künftig letzte Instanz oder nur beratendes Expertengremium sein soll – und damit geht es auch um den unabhängigen Schutz der Menschenrechte, kommentiert Oskar Josef Gstrein.
Es ist nur eine Zahl, aber sie wiegt schwer: 151.600 Beschwerden waren laut der Statistik des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Ende 2011 in Straßburg anhängig. Dies entspricht einer Zunahme von neun Prozent, obwohl die Richter gleichzeitig fast ein Drittel mehr Fälle behandeln konnten als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Gerade seit der Jahrtausendwende sieht sich die wohl prominenteste Einrichtung des Europarates einer nicht enden wollenden Flut von Beschwerden ausgesetzt, und seit dem Jahr 2010 versuchen die Mitgliedstaaten im Rahmen von jährlich stattfindenden Konferenzen Wege zu finden, um den unvermeidbar erscheinenden Kollaps zu vermeiden.
Da gegenwärtig Großbritannien den Vorsitz innehat, wird es diesmal im englischen Brighton zum Zusammentreffen auf höchster Ebene kommen. Man ist versucht zu glauben, dass ein Land, dessen Geschichte die berühmte Magna Charta Libertatum hervorgebracht hat und dessen Polit-Ikone Winston Churchill als einer der Gründerväter des Europarates gelten darf, vieles zur Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes beitragen kann.
Allerdings weht dieser Tage ein rauer Wind, wenn im Abgeordnetenhaus an der Themse über den EGMR debattiert wird. Die festgestellten Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch das Vereinigte Königreich im Zusammenhang mit dem Engagement im Irak, das Urteil Straßburgs zum Wahlrecht Strafgefangener in britischen Haftanstalten und die Ansicht, dass die Abschiebung eines islamischen Hasspredigers unzulässig ist, haben den Stolz einer Nation verletzt. Vor allem die Konservativen fordern von ihrem Premierminister David Cameron, endlich die Reißleine zu ziehen.
Staaten reagieren zunehmend gereizt auf Straßburger Urteile
Den Kern der Debatte rund um die Stellung des Straßburger Gerichts bildet dabei die Frage, ob der EGMR ein der nationalen Rechtsprechung übergeordnetes Spezialgericht, oder lediglich ein Gremium mit Leitfunktion sein sollte. Dabei muss man bedenken, dass der EGMR eine Einrichtung des Europarats ist, und dieser wiederum eine klassische internationale Organisation. Dies bedeutet, dass praktisch ausschließlich der Konsens der Europarats-Mitglieder zählt. Die nationale Umsetzung der Urteile des EGMR ist damit ein politischer Prozess.
Die Urteilsfindung hat sich hingegen durch die Ausgestaltung objektiver Entscheidungskriterien und die Stärkung eines unabhängigen Gerichts immer mehr von der politischen Willensbildung verselbständigt. Deshalb kommt es in den letzten Jahren auch verstärkt dazu, dass die Straßburger Urteile heftige Reaktionen in einzelnen Staaten auslösen. Es herrscht das Gefühl vor Teil eines Systems geworden zu sein, dem man ursprünglich nicht beigetreten ist.
Übersehen wird dabei allerdings, dass der Menschenrechtsschutz zentral von der Bindung an allgemeine Prinzipien und objektive Entscheidungsprozesse lebt. Nur so kann er tatsächlich funktionieren. Denn Menschenrechte sind das Ergebnis oft jahrhundertelanger gesellschaftlicher Erfahrungsprozesse. Ihre Anwendung im Einzelfall ist nur gesichert, wenn diese Prinzipien unparteiisch und unabhängig von vorherrschenden Stimmungslagen umgesetzt werden können.
Je dominierender die nationalen Interessen, desto geringer der Menschenrechtsschutz
Dieses Versprechen haben die Staaten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Unterzeichnung der EMRK sich und uns Bürgern geleistet. In Brighton stellt sich nun die Frage, wie sich die Entwicklung fortsetzen kann, oder ob mit dieser Tradition gebrochen wird.
Dabei lassen sich im Vorfeld bereits einige Kernpunkte der Diskussion ausmachen. So wird etwa die Möglichkeit zur Einholung von Vorabentscheidungen nach dem Vorbild der EU angedacht, eine Verkürzung der Beschwerdefristen, eine weitere Standardisierung der Verfahren oder die Verbesserung der Urteilsüberwachung im Hinblick auf systematische Schwächen in den Mitgliedstaaten. Einig ist man sich darüber, dass die Straßburger Richter weniger Urteile fällen sollen.
Ob dies im Ergebnis eine Stärkung oder Schwächung des Gerichtshofs bedeutet, ist derzeit völlig offen. Setzt sich allerdings jene Seite durch, die mehr Subsidiarität und staatlichen Einfluss fordert, droht der Menschenrechtsschutz in Europa an Qualität zu verlieren. Die von allen Verhandlungsparteien erhobene Forderung nach einer Entlastung darf nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten von kurzfristigen Überlegungen geprägte nationale Interessen auf Kosten des Menschenrechtsschutzes durchsetzen. Ansonsten besteht die konkrete Gefahr einer Rückkehr in längst überwunden geglaubte Zeiten.
Der Autor MMag. Oskar Josef Gstrein, LL.M. Eur. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Torsten Stein am Europainstitut der Universität Saarbrücken und forscht im Bereich des Europäischen und Internationalen Menschenrechtsschutzes.
Pläne zur Reform des EGMR: . In: Legal Tribune Online, 18.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6020 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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