Über 30.000 Beschwerden aus der Türkei, klare Ansagen an Erdogan und Putins Russland – das Jahr 2018 hatte es in sich für den EGMR. Es stellte das Gericht auf eine harte Probe.
1/6: Die ersten beiden Fälle aus der Türkei – 30.000 warten noch
Immer wieder muss das Straßburger Gericht über hochpolitische Verfahren in den Mitgliedstaaten entscheiden, die ihn zugleich tragen. Das sorgt dafür, dass sich das Gericht selbst unter Spannung setzen kann. Erster Anlass im Jahr 2018 bot das Verfahren von zwei in der Türkei inhaftierten Journalisten. Damit konnte der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Neuland betreten und zum ersten Mal über Inhaftierungen nach dem Putschversuch vom Juli 2016 entscheiden. Bis dahin waren alle Beschwerden abgelehnt worden – und zwar, weil der Rechtsweg in der Türkei aus Sicht des EGMR nicht erschöpft worden war.
Ausgangslage für die konkreten Verfahren war ein Kräftemessen zwischen den Gerichten in der Türkei. Im Januar noch hatte das Verfassungsgericht dort die Freilassung der beiden Journalisten angeordnet. Das für sie zuständige Strafgericht in Istanbul ignorierte die Entscheidung. Das Urteil des EGMR nahm darauf ausdrücklich Bezug und liest sich wie Schützenhilfe für das türkische Verfassungsgericht. Das Straßburger Gericht betont, dass es in der Türkei immer noch Gerichte und insbesondere das Verfassungsgericht am Werk sieht, die eine "effektive Beschwerdeinstanz" darstellen können.
Diese Einschätzung erlaubt es dem EGMR zunächst einmal selbst seinen strengen Filter für alle Beschwerden aus der Türkei aufrecht zu erhalten, und zugleich stärkt es die Rolle des türkischen Verfassungsgerichts. Der EGMR betonte, dass er das Verhältnis der Instanzgerichte zum Verfassungsgericht weiter beobachten werde. Letztlich könne der Zustand in genau diesem Verhältnis seine Einschätzung zukünftig in Frage stellen, so die Straßburger Richter. Eine letzte und bindende Entscheidung des Verfassungsgerichts durch ein anderes Gericht in Frage zu stellen, rühre an die "Eckpfeiler jeder Garantie gegen Willkür".
Sollte man kennen: . In: Legal Tribune Online, 12.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32671 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag