Jens Spahn plädiert gegen Privilegien für Geimpfte, Horst Seehofer spricht gar von einer indirekten Impfflicht. Steffen Augsberg hält das für Moral statt Recht. Er bezweifelt sogar, dass es möglich wäre, Privilegien per Gesetz zu verbieten.
LTO: Zwei Tage, nachdem die Impfungen gegen das Coronavirus begonnen haben, mehren sich die Forderungen, dass es keine Privilegien für Geimpfte dürfen gebe. Das ist eine Diskussion zur Unzeit, weil derzeit nicht einmal feststeht, dass Geimpfte nicht infektiös sind. Aber unterstellen wir einmal, Geimpfte könnten niemand anderen mehr anstecken: Was spricht aus Ihrer Sicht rechtlich dagegen, zum Beispiel Kneipen nur für diejenigen wieder zu öffnen, die einen Impfnachweisvorlegen können?
Prof. Dr. Steffen Augsberg: Abgesehen von einzuhaltenden Vorgaben des Datenschutzrechts: gar nichts. Für Private gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit: Jeder darf sich aussuchen, mit wem er kontrahiert – und eben auch, mit wem nicht. Wenn ein Nicht-Geimpfter künftig nicht zu Bäcker A gehen kann, weil der nur noch nachweislich Geimpfte bedienen will, er aber (mit Maske) zu Bäcker B im selben Ort gehen kann, dann geht es um das Gefühl, zurückgesetzt zu sein, aber nicht um einen rechtlichen Anspruch.
Bleiben wir bei Ihrem Beispiel: Wie sähe es aus, wenn es keinen Bäcker B im Dorf gibt?
Dann wird es schon schwieriger. Je mehr es in Richtung Daseinsvorsorge geht, desto eher gibt es einen staatlichen Auftrag, einzuschreiten. Der Staat ist Gleichheitsaspekten stärker verpflichtet als Private. Es wäre etwa kaum vorstellbar, die Beratung im Jobcenter daran zu knüpfen, dass der Berechtigte einen Impfnachweis vorlegt.
Aber im privaten Bereich gilt, dass man sich diesseits von Sonderkonstellationen prinzipiell aussuchen kann, mit wem man Verträge abschließt. Grenzen setzen insoweit nur mittelbar wirkende Vorgaben des Verfassungsrechts und insbesondere das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) – dieses hat jedoch nur bestimmte, hier nicht einschlägige Anknüpfungskriterien für eine Ungleichbehandlung verboten.
Zudem besteht auch im AGG eine Rechtfertigungsmöglichkeit, und eine Impfung ist kein unzulässiges Kriterium, sondern ein nachvollziehbarer sachlicher Grund. Das gilt selbst dann, wenn nur die Immunisierung, nicht aber die Nichtinfektösität mit hoher Wahrscheinlichkeit vorliegt: denn auch dann können sich für die Unternehmen signifikante Vorteile ergeben.
"Kein rechtliches Hindernis, eine Kreuzfahrt nur für Geimpfte anzubieten"
Aber kann das auch gelten, wenn es den Menschen noch gar nicht möglich ist, sich impfen zu lassen? Niemand würde wohl anzweifeln, dass ein Impfgegner damit leben muss, nicht in eine Kneipe zu dürfen, in die der Wirt aus gesundheitlichen Gründen nur Geimpfte lassen will. Aber für die kommenden Monate dürften dann ja auch viele Menschen nicht in die Kneipe, die sich gern impfen lassen würden, aber nicht impfen lassen können, weil die Regierung eine andere Priorisierungsentscheidung getroffen hat.
Im privaten Bereich ändert das aus meiner Sicht regelhaft nichts. Wo kein Kontrahierungszwang besteht, kann ich mir meine Vertragspartner aussuchen: Der Inhaber einer Diskothek kann einem Gast beispielsweise den Zugang verwehren, nur weil ihm dessen Nase oder Outfit nicht gefällt, oder wenn eine Gruppe von Teenagern eine Ü-30-Party besuchen will.
Es kommt hier nicht darauf an, ob der mögliche Vertragspartner die Möglichkeit hat, die gestellte Bedingung zu erfüllen. Wo ein "Kein Bier für Nazis"-Aufkleber an der Tür klebt, muss jemand, der vom Gastwirt zu dieser Gruppe gezählt wird, damit leben, nicht reinzukommen. Das ist eine legale Auswahlentscheidung, die er hinzunehmen hat.
Aber auch in dem Fall, dass die Bedingung vom Staat gesetzt wird, also weder eine Geisteshaltung ist noch auf irgendeiner Entscheidung beruht, die sie oder er selbst hätte treffen können?
Im Fall von Corona meines Erachtens dann sogar erst recht. Hier geht es ja nicht um willkürliche oder rein persönliche Entscheidungen: Nehmen Sie ein kleines Theater, das bei Einhaltung der nötigen Hygienekonzepte nur 5 statt 50 Plätze besetzen und damit gar nicht kostendeckend arbeiten könnte. Wenn es mit 50 Geimpften den Betrieb wieder aufnehmen könnte, wäre das ein guter sachlicher Grund für die - an sich aber gar nicht rechtfertigungsbedüftige- Ungleichbehandlung gegenüber Nicht-Geimpften.
Ich bin im Übrigen überzeugt, dass dieser Fall schon ein Extremfall ist. Das Problem dürfte sich in der Praxis kaum stellen, und der Markt wird vieles selbst steuern: Für die allermeisten Unternehmen würde sich das überhaupt nicht lohnen, weil es nicht hinreichend viele Geimpfte gibt.
Das könnte sich im Mai oder Juni ja durchaus ändern. Aber nehmen wir ein naheliegendes Geschäftsmodell, das typischerweise, aber keineswegs nur von Senioren in Anspruch genommen wird, die zeitnah geimpft werden können, während jüngere Menschen wohl noch bis zum Sommer warten müssen: Kreuzfahrten dürften sich sehr wohl lohnen, wenn geimpfte Senioren künftig wieder mitfahren dürfen.
Ein gutes Beispiel. Wenn die Impfung Nichtinfektiösität bedeutet, sehe ich absolut keinen Grund, keine Kreuzfahrt anzubieten, wenn alle an Bord geimpft wären.
Die Kreuzfahrtveranstalter dürfen diese Auswahl treffen, und der Staat dürfte sich dem nicht entgegenstellen – der freiheitliche Grundsatz lautet schließlich, dass Beschränkungsmaßnahmen, die nachweislich nichts bringen, nicht aufrechterhalten werden dürfen. Es stellt auch keine Diskriminierung dar, wenn eine unterschiedliche Behandlung auf einem sachlichen Grund beruht.
"Eher moralischer Tadel als rechtliche Reflexion"
Gesundheitsminister Jens Spahn lehne Sonderrechte für Geimpfte ab, hieß es am Montagmorgen, „keiner sollte Sonderrechte einfordern, bis alle die Chance zur Impfung hatten“. Innenminister Horst Seehofer sagte gar, eine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften komme einer Impfflicht gleich. Das klingt nach vielen Konjunktiven und moralischen Aufrufen - wäre denn kein Gesetz denkbar, das es privaten Unternehmen verbietet, Vorteile an einen Impfstatus zu knüpfen?
Ein solches Gesetz würde Grundrechte beschneiden, etwa die Berufs- oder die Kunstfreiheit, aber natürlich vor allem die grundrechtlich abgesicherte Privatautonomie der Geimpften und der Unternehmer.
Eine Rechtfertigung ist dafür nicht unbedingt ersichtlich. Auf den Infektionsschutz könnte man sich jedenfalls nicht mehr berufen, und dementsprechend klingt vieles in der Tat mehr nach moralischem Tadel denn nach rechtlicher Reflexion. Es ist zum Beispiel schlicht nicht richtig, dass im Privatrechtsverkehr gewährte Vorteile für Geimpfte einer – und sei es auch nur indirekten – staatlichen Impfflicht gleichkommen würden. Gegen zulässige Anreize nicht einzuschreiten ist nicht gleichbedeutend mit einer negativen Sanktionierung. Es ist weder Aufgabe der Privaten noch des Staates, darauf zu drängen, dass alle überall gleichbehandelt werden. Vielmehr bringt eine Impfung eben Vorteile mit sich – es ist nicht einzusehen, warum das nur auf die erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit beschränkt werden sollte.
Auch die von einigen befürchtete Zweiklassengesellschaft liefert kein rechtlich valides Argument. Das ist eine doch sehr pauschale Annahme, die im übrigen die sonstigen, bereits real existierenden sozialen Effekte der Pandemie nicht hinreichend berücksichtigt.
Es erscheint mir kaum vorstellbar, dass der Gesetzgeber Private insgesamt zur Gleichbehandlung verpflichten würde, obwohl es einen guten Grund dafür gibt, eine Ungleichbehandlung vorzunehmen. Wie gesagt, im Bereich der Daseinsvorsorge dürfte das anders aussehen, zumindest solange die Impfungen noch nicht für alle verfügbar sind. Aber für Private scheint es mir für ein solches Privilegierungsverbot kaum rechtlich tragfähige Argumente zu geben.
"Regelbefolgungsargument: Die Sorge um den Infektionsschutz könnte sich durchsetzen"
Und doch hat sich der Ethikrat, dessen Mitglied Sie sind, im Frühjahr dagegen ausgesprochen, dass Menschen mit einem sog. Immunitätsausweis von den Corona-Maßnahmen befreit werden könnten. Was soll – die Nicht-Infektiösität bei Impfung weiter unterstellt - der Unterschied zu Privilegien für Geimpfte sein?
Ich spreche ja hier mit Ihnen als Rechtswissenschaftler und nicht für den Ethikrat – und auch dort haben wir sehr kontrovers diskutiert und waren interessanterweise genau hälftig gespalten. Tatsächlich aber leuchtet mir noch am ehesten in diesem – natürlich grundsätzlich vergleichbaren – Kontext das sogenannte Regelbefolgungsargument ein.
Das heißt: Wir haben uns als Ethikrat im Frühjahr dagegen ausgesprochen, dass Immune von minimalinvasiven Maßnahmen wie der Pflicht, im Personennahverkehr eine Maske zu tragen, ausgenommen werden sollten. Sie auszunehmen würde Missstimmung und Misstrauen in einem engen räumlichen Zusammenhang erzeugen und könnte dazu führen, dass auch Nicht-Immune sich nicht mehr an die Regeln halten.
Das sind natürlich eher weiche Kriterien wie der öffentliche Frieden, an die solche rechtlichen Entscheidungen anknüpfen würden – und sie gelten deshalb aus meiner Sicht auch nur für nicht sehr grundrechtsintensive Beschränkungen.
Aber könnte denn genau diese Regelbefolgung nicht auch ein Argument für die Rechtmäßigkeit eines entsprechenden Gesetzes für Private sein? Ein Beispiel: Nehmen wir an, im Mai ist es wärmer, die Infiziertenzahlen gehen zurück und immerhin ein größerer Teil der Bevölkerung konnte bereits geimpft werden. Die Gastronomie ist grundsätzlich – mit Hygienekonzepten -geöffnet, aber es gibt weiterhin die staatliche Vorgabe, sich nicht zu mehr als fünf Personen gemeinsam an öffentlichen Orten aufzuhalten. Dann dürfte ein Kneipier an einem beliebten Platz, weil er privater Unternehmer ist, nur an Geimpfte in seiner Kneipe Bier ausschenken, das diese dann dort auch mit 10 ebenfalls geimpften Freunden trinken dürften. Auf dem Platz vor der Kneipe aber dürften dieselben Geimpften ihr Bier nicht gemeinsam trinken, weil dort der Staat dafür zuständig ist, die 5-Personen-Regel einzuhalten und der Staat alle gleichbehandeln muss?
Das ist ein schöner, da komplizierter Beispielfall. Im Ausgangspunkt gilt, dass infektionsschutzbedingte Beschränkungen nicht diejenigen erfassen dürfen, die weder sich noch andere gefährden.
Nimmt man letzteres für geimpfte Personen an, dürfte der Staat ihnen folglich auch das Bierchen im Freien nicht verwehren. Aber hier geht es dann tatsächlich darum, welche Auswirkungen – im Sinne einer negativen Vorbildfunktion – das auf die allgemeine Regelbefolgung hat. Es ist also nicht nur ein Kontroll-, sondern ein Übermaßproblem.
Das Interesse an einer gemeinsamen Sommernacht ist ins Verhältnis zu setzen zu den möglichen Auswirkungen. Dass sich dabei die Sorge um den Infektionsschutz durchsetzt, scheint mir gut vorstellbar. Im Einzelnen hängt das aber natürlich von einer Vielzahl von Faktoren, etwa den Fallzahlen sowie bestehenden oder befürchteten Be- und Überlastungen des Gesundheitssystems ab.
Herr Professor Augsberg, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Prof. Dr. Steffen Augsberg ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Verfassungsrechtler zu Sonderrechten nach Impfung: . In: Legal Tribune Online, 29.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43849 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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