Abschiebungen in die EU-Staaten, die ein Asylbewerber auf seiner Flucht als erstes betreten hat, bleiben die Regel. Entgehen kann man ihnen nun durch freiwillige Ausreise. Rolf Gutmann über den zweifelhaften Sinn des Dublin-Verfahrens.
In diesen Tagen machen Flüchtlinge an der Außengrenze Ungarns deutlich, dass wie vor 2.000 Jahren Grenzwälle auf Dauer keine Völkerwanderung aufhalten können. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom Donnerstag zur Rechtmäßigkeit von Abschiebungen nach dem Dublin-Verfahren wurde daher in einem brisanten Umfeld gefällt.
Danach ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) grundsätzlich weiterhin verpflichtet, nach § 34a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) die Abschiebung von Asylbewerbern, die unter die Dublin-Bestimmung der EU fallen, in das EU-Land anzuordnen, das sie bei ihrer Flucht als erstes betreten haben. Die deutsche Regelung sei europa- und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, entschieden die Leipziger Bundesrichter. Doch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit schränkten sie die Norm für Ausnahmen ein: in Einzelfällen müssten die Behörden prüfen, ob auch eine freiwillige, selbstorganisierte Ausreise des Asylbewerbers in Betracht komme (Urt. v. 17.09.2015, Az. BVerwG 1 C 26.14).
In dem vom BVerwG entschiedenen Sachverhalt hatte sich ein 22-jähriger pakistanischer Staatsangehöriger zunächst gegen seine Abschiebung nach Italien gewehrt. Dort war er wegen illegaler Einreise erfasst worden, musste seine Fingerabdrücke abgeben und wurde schließlich im EURODAC-System gespeichert. Er habe jedoch von Anfang an den festen Plan gehabt, nach Deutschland zu reisen, um hier einen Asylantrag zu stellen, was er anschließend auch tat. Auf Grund des EURODAC-Treffers ersuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die italienischen Behörden um Aufnahme des Klägers. Da Italien nicht innerhalb der im Dublin-Übereinkommen vorgesehenen Frist von zwei Monaten reagierte, war von der Zustimmung Italiens auszugehen. Daraufhin lehnte das Bundesamt im März 2014 den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Im Gerichtsverfahren, das zuletzt nur noch die Anordnung der Abschiebung als Streitgegenstand hatte, wandte der Kläger ein, er sei zur freiwilligen Rückkehr bereit.
BVerwG: Keine Abschiebung bei freiwilliger Ausreise
In Deutschland bestimmt § 34a AsylVfG aber, dass Überstellungen nur in Form der Anordnung einer Abschiebung, die mithilfe von Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden kann, erfolgen können. Die freiwillige Ausreise kennt das deutsche Recht nicht.
Zwar sieht die Dublin III-Verordnung, auf der die deutsche Regelung basiert, daneben auch die Möglichkeit einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers vor. Die Mitgliedstaaten können aber selbst bestimmen, welche Überstellungsform sie vorsehen. Unionsrechtlich müssen sie der selbstorganisierten Ausreise nicht den Vorrang einräumen. Daher sei § 34a AsylVfG unions- und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, so das BVerwG.
Bei entsprechender Initiative des Asylbewerbers müssten die für den Vollzug von Dublin-Überstellungen zuständigen Ausländerbehörden jedoch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit prüfen, ob dem Betroffenen ausnahmsweise anstelle einer Abschiebung auch die Möglichkeit der selbstorganisierten Überstellung ermöglicht werden kann. Eine solche Ausnahme vom Regelfall der Abschiebungsanordnung setze zunächst voraus, dass der Flüchtling die Gründe im Asylverfahren geltend macht. Er müsse die selbstorganisierte Überstellung auch finanzieren. Zudem müsse gesichert erscheinen, dass der Flüchtling tatsächlich freiwillig in den anderen Mitgliedstaat ausreist und sich dort fristgerecht bei der dort zuständigen Behörde meldet. Denkbar sei das in Fällen der vom Flüchtling gewünschten Familienzusammenführung in dem anderen Mitgliedstaat.
Das Dublin-Verfahren und die Wirklichkeit
Der Anwalt des Klägers, Norbert Wagener, äußerte sich im Zuge des Verfahrens äußerst kritisch über die derzeit geltenden EU-Regelungen zum Umgang mit Asylbewerbern: "Die weitaus meisten Flüchtlinge wehren sich dagegen, ein Zufluchtsland, das sie nicht wollen, und ein Zufluchtsland, das sie nicht will, aufzusuchen. Das ist doch der Grund für die Bilder, die wir gerade aus Ungarn sehen." Das Dublin-Verfahren halte der Wirklichkeit nicht mehr stand.
Tatsächlich wird die Dublin-Verordnung angesichts der immensen Flüchtlingszahlen inzwischen europaweit kaum eingehalten. Doch bis es so zu diesem Umdenken kam, dauerte es eine lange Zeit. Ursprünglich diente das Dubliner Übereinkommen aus deutscher Sicht der Abwehr der Flüchtlinge und der Verschiebung dieser Last auf die Staaten an der Peripherie der Europäischen Union. Einen Mechanismus für die gerechte Verteilung von Flüchtlingen kennt die Dublin III-VO nicht. Erst nachdem das durch den Flüchtlingsstrom überlastete Ungarn zeitweise die Grenzen öffnete und der Zustrom der Flüchtlinge nach Deutschland über Nacht anschwoll, sprach die Bundesregierung von der Notwendigkeit der solidarischen Verteilung der Flüchtlinge in der EU.
Rolf Gutmann, BVerwG zur Auslegung der Dublin-Bestimmungen: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16936 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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