2/2: EGMR zu Italien: Menschenrechte wichtiger als Dublin-Verordnung
Es ist umstritten, welche Rechte Flüchtlinge im Dublin-Verfahren geltend machen können. Eingeleitet hatte die Diskussion ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) vom 21. Januar 2011 (M. S. S. gg. Griechenland und Belgien), das die Rückführung eines Flüchtlings nach Griechenland wegen der dortigen menschenrechtswidrigen Verhältnisse verurteilte.
Bis dahin war man davon ausgegangen, dass die Flüchtlinge dem Verteilungssystem der Vertragsstaaten des Dubliner Übereinkommens rechtlos ausgeliefert seien. Nunmehr konnte ein EU-Mitgliedstaat nicht mehr unwiderleglich als sicherer Drittstaat behandelt werden, in den eine Rückführung ohne Bedenken zulässig wäre.
Nach dem Urteil M. S. S. musste die Dublin II-Verordnung überarbeitet werden. Die nun geltende Dublin III-Verordnung sieht die Berücksichtigung von familiären Zusammenführungen vor und untersagt bei allein reisenden minderjährigen Flüchtlingen die Rückführung in zuvor durchquerte Staaten.
Für die nach der neuen Dublin-Verordnung unverändert zulässige Rückführung von Familien mit minderjährigen Kindern setzte der EGMR im Urteil vom 4. November 2014 (Tarakhel gg. Schweiz) alsbald neue Maßstäbe. Wegen der Schutzbedürftigkeit der Kinder gab er dem abschiebenden Staat auf, schon vor der Abschiebung zu sichern, dass die Familie nach ihrer Ankunft im anderen Staat eine Unterkunft erhält.
Derzeit prüft das Bundesverfassungsgericht, ob diese Voraussetzungen bereits im Asylverfahren vom Gericht geprüft werden müssen. Es hat seit März 2015 in mehreren Verfahren die Rückführung vorläufig untersagt.
Rechte der Flüchtlinge im Asylverfahren
Nach der bei den Verwaltungsgerichten vorherrschenden Auffassung können Flüchtlinge nur dann auf Rechtsschutz gegen die Anordnung der Abschiebung hoffen, wenn sie geltend machen können, dass im anderen Mitgliedstaat systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber vorliegen.
Abgesehen davon können sie sich nicht gegen die Rückführung in einen früher durchquerten EU-Mitgliedstaat wehren. Dies gilt sogar dann, wenn diese verfahrensfehlerhaft wäre. Diese Auffassung der Gerichte aber degradiert die Schutzsuchenden zum bloßen Objekt staatlicher Gewalt.
Das nun ergangene Urteil des BVerwG bejaht nun zumindest in Ausnahmefällen die Befugnis, eigene Rechte gegen eine Rückführung geltend zu machen. Die Voraussetzungen sind jedoch äußerst eng bemessen und geben den Schutz suchenden Menschen lediglich die Möglichkeit, sich gegen die Art und Weise der Überführung in den anderen Staat zu wehren.
Eine Klärung der Frage des "Ob" der Rückführung bahnt sich durch ein vom Kammarrätten in Stockholm eingeleitetes Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) an (Az. C-155/15). Dort wird der EuGH auch zu entscheiden haben, ob die Zuständigkeit eines auf der Flucht zuvor betretenen Mitgliedstaats endet, wenn der Flüchtling diesen Staat nachweislich für mindestens drei Monate verlassen hat.
Der Autor Prof. (Yeditepe Univ.) Dr. Rolf Gutmann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Stuttgart. Er ist mit Migrationsrecht als Mitherausgeber und Redakteurs des Informationsbriefs Ausländerrecht und als Mitarbeiter des Gemeinschaftskommentars zum Aufenthaltsgesetz (GK-AufenthG) vertraut.
Rolf Gutmann, BVerwG zur Auslegung der Dublin-Bestimmungen: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16936 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag