Im Antiterrordatei-Urteil ging es um Datenaustausch zwischen Polizei und Geheimdienst. Das BVerfG nutzte die Gelegenheit aber auch um auf Åkerberg Fransson zu antworten, eine EuGH-Entscheidung, die für Aufregung gesorgt hatte. Im LTO-Interview erklärt Wolfgang Weiß, warum Karlsruhe eine Vorlage nicht scheuen sollte und auch nationale Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts nachdenken dürfen.
LTO: In seinem Urteil zur Antiterrordatei hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) relativ ausführlich dazu Stellung genommen, dass es das Verfahren nicht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegen muss. Wieso hat es das getan?
Weiß: Das Urteil des EuGH in der Sache Åkerberg Fransson hatte eine öffentliche Diskussion über die Zuständigkeit Luxemburgs für Grundrechtsfragen und den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta ausgelöst. In dem Fall hatte eine schwedisches Gericht die Frage vorgelegt, ob die Grundrechtecharta auf einen Fall angewendet werden muss, in dem es um ein Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerhinterziehung ging. Der EuGH hielt sich für zuständig und entschied, dass die Grundrechtecharta immer dann von den Mitgliedstaaten anzuwenden sei, wenn eine nationale Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts falle. Dies sei bei Ermittlungen wegen unrichtiger Angaben in einer Mehrwertsteuererklärung der Fall, da insoweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Pflichten zur effektiven Strafverfolgung und zur Ahndung von Steuerbetrug auferlegt. Die Mitgliedstaaten bewegen sich dann im Anwendungsbereich des Unionsrechts.
Der frühere Generalanwalt Carl Otto Lenz hatte nach diesem EuGH-Urteil in einem Beitrag angemahnt, die Entscheidung nicht zum Anlass zu nehmen, einen Justizkonflikt zwischen EuGH und BVerfG heraufzubeschwören. Die Auslegung des Art. 51 der Grundrechtecharta, der den Anwendungsbereich der Charta bestimmt, durch den EuGH sei durchaus nachvollziehbar.
Das BVerfG wollte nun wohl mit der Passage im Urteil zur Antiterrordatei auch zu dieser Frage öffentlich Stellung nehmen. Ich verstehe die Urteilspassagen des BVerfG als implizite Andeutung und Signal nach Luxemburg, dass man die Entscheidung zur Kenntnis genommen habe und sich eine etwas vorsichtigere interpretative Herangehensweise gewünscht hätte. Aber das wird nicht offen ausgesprochen. Ich denke, dass das BVerfG auch deutlich gemacht hat, dass es keinen Anlass für einen justiziellen Konflikt sieht.
LTO: Selbst der Generalanwalt hatte den EuGH ja damals nicht für zuständig gehalten. Wie sehen Sie das? Haben die Luxemburger Richter zu Recht in der Sache entschieden?
Weiß: Der EuGH hat in Åkerberg Fransson die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta zu Recht bejaht. Dort ging es um einen Sachverhalt, der intensiv EU-rechtlich umhegt war. Die Mehrwertsteuererhebung ist umfassend vereinheitlicht durch EU-Richtlinien. Da das Mehrwertsteueraufkommen mitentscheidet über die EU-Eigenmittel, greifen hier auch allgemeine unionsrechtliche Vorgaben über die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur effektiven Umsetzung des EU-Rechts ein, insbesondere auch Verpflichtungen zur wirksamen und abschreckenden Ahndung.
"Åkerberg Fransson geht weit über Mehrwertsteuersachverhalte hinaus"
LTO: Halten Sie die Nicht-Vorlage des BVerfG für richtig?
Weiß: Beim BVerfG ist eine Tendenz erkennbar, eine Vorlage an den EuGH möglichst zu vermeiden. Schließlich hat es noch nie vorgelegt, vielleicht weil man das als Zeichen der Unterordnung deuten könnte. Allerdings sehe ich im Fall der Antiterrordatei auch inhaltlich nicht wirklich einen Anlass für eine Vorlage.
Eine Antiterrordatei ist nicht europarechtlich geregelt. Auch greifen allgemeine EU-rechtliche Anforderungen an nationales Recht nicht, wie etwa effektive Ahndung im Kontext der Eigenmittel, anders als bei dem Sachverhalt, der dem EuGH in Åkerberg Fransson zugrunde lag. Das BVerfG zeigt in seiner Entscheidung auf, dass es zwar einige Bezüge zu Sekundärrechtsakten über die Datenverwendung gibt. Die sind aber so weit entfernt, dass dieser Sachverhalt in der Tat nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
LTO: In der Pressemitteilung des BVerfG – nicht aber im eigentlichen Urteilstext – heißt es, der Senat gehe davon aus, dass die in der EuGH-Entscheidung enthaltenen Aussagen auf Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts beruhten, aber keine grundsätzliche Auffassung äußern. Sehen Sie das genauso?
Weiß: Der EuGH hat durchaus allgemein ausgeführt, wie weit der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta geht. Die Luxemburger Richter haben die Charta so interpretiert, dass sie – wie alle europäische Unionsrechte schon seit jeher – im Geltungsbereich des Unionsrecht anzuwenden ist. Insoweit, denke ich, geht das Urteil in seiner Relevanz weit über Mehrwertsteuersachverhalte hinaus.
Bei der Frage, ob der konkrete Fall nun in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ging es dann allerdings in der Tat um spezifische Fragen der europarechtlichen Vorprägung des Mehrwertsteuerrechts.
BVerfG zur Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH: . In: Legal Tribune Online, 08.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8688 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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