BVerfG verhandelt über Deals im Strafprozess: Juristen zwischen Recht und Realität

von Pia Lorenz

07.11.2012

2/2: Die lange Geschichte des Handels mit der Gerechtigkeit

Absprachen aber sind seit Jahrzehnten Bestandteil des strafgerichtlichen Alltags. Für den Strafprozess, der von der Maxime der Wahrheitsfindung beherrscht wird und vertragsähnlichen Absprachen eigentlich nicht zugänglich ist, sind sie ebenso atypisch wie erforderlich. Die überlastete Justiz kann Verfahren mit Absprachen, also einem Konsens statt der Wahrheitsfindung, nicht nur schnell, effizient, sondern häufig auch zur Zufriedenheit aller Beteiligten und nicht zuletzt des Angeklagten zu Ende bringen. 

Längst beenden Deals nicht mehr nur Wirtschaftsstrafsachen. Selbst bei den Schwurgerichten sind sie mittlerweile an der Tagesordnung. Die Vorschrift, über die nun Karlsruhe zu entscheiden hat, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Diskussion.

Während das BVerfG im Jahr 1987 immerhin pauschal anmahnte, es dürfe keinen "Handel mit Gerechtigkeit" geben, hielt der BGH zehn Jahre später Deals für grundsätzlich zulässig. Die Regeln, welche die Bundesrichter dabei aufstellten, fanden augenscheinlich aber wenig Beachtung.

Das Gesetz: Wahrheit, Transparenz, Überprüfbarkeit

Die besorgten Stimmen mehrten sich, bis im Jahr 2005 der Große Senat für Strafsachen des BGH zwar nicht den Deal, aber den Rechtsmittelverzicht danach für unzulässig erklärte und diesen so immerhin justiziabel machte. Sein Appell an den Gesetzgeber fand Gehör, im Jahr 2009 trat die Vorschrift des § 257c StPO in Kraft.

Danach muss das Gericht auch bei einem Deal den Sachverhalt aufklären, darf keine Absprachen über den Schuldspruch treffen und muss den Beschuldigten darauf hinweisen, dass es sich nicht an die getroffene Absprache halten muss, wenn es danach Umstände feststellt, welche die vereinbarte Strafe als nicht mehr angemessen erscheinen lassen.

Zeit soll der Beschuldigte haben, um sich die vorgeschlagenen Bedingungen durch den Kopf gehen zu lassen. Und schließlich soll der Deal transparent sein: Vor allen Beteiligten und in der Öffentlichkeit muss die Absprache getroffen werden. Das Protokoll der Hauptverhandlung soll den wesentlichen Inhalt wiedergeben. Auf Rechtsmittel kann der Angeklagte nicht verzichten, damit das nächst höhere Gericht den Deal im Zweifel überprüfen kann.

Von Anspruch und Wirklichkeit

Die Fakten scheinen eine andere Sprache zu sprechen, glaubt man einer Studie zur Praxis der Verständigung im Strafverfahren des Düsseldorfer Rechtwissenschaftlers Karsten Altenhain, den das BVerfG als Sachverständigen beauftragt hat. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung gaben unter gut 330 befragten Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern aus Nordrhein-Westfalen fast zwei Drittel der Amtsrichter an, in jeder zweiten Absprache gegen die Vorschrift des § 257c StPO zu verstoßen. Die Mehrzahl der Verteidiger hatte schon Fälle, in denen Angeklagte ein möglicherweise falsches Geständnis ablegten, um eine mildere Strafe zu bekommen. 28 Prozent der Richter überprüfen nach einer Absprache nicht mehr so genau, ob ein Geständnis auch glaubwürdig ist.

Es ist nicht die erste Studie des Düsseldorfer Rechtswissenschaftlers. Bereits 2005 befragte er Wirtschaftsstrafrechtler nach ihren Erfahrungen im Umgang mit Absprachen im Strafprozess. Dennoch darf man es als ungewöhnlich bezeichnen, dass das höchste deutsche Gericht empirische Daten darüber erheben lässt, ob Juristen sich an das Gesetz halten, wenn sie Recht sprechen. 

Karlsruhe kann nur das Recht verändern, nicht die Realität. Wenn eine Vorschrift nicht eingehalten wird, sagt das über ihre Verfassungsmäßigkeit nichts aus. Aber auf dem Tisch der höchsten deutschen Richter liegt mit § 257c StPO ein Gesetz, das seinerseits vor allem geschaffen wurde, um eine längst existente Realität in Schach zu halten, die nicht mehr den Grundsätzen des Rechts unterworfen war. Dieses Ziel hat sie offenbar verfehlt.

Nun ist es am BVerfG, über viel mehr zu entscheiden als bloß über eine strafprozessuale Norm. Dass der Rechtsstaat nicht zu kurz kommen wird, darauf kann man sich verlassen. Selten aber hatte das höchste deutsche Gericht, dem gern Realitätsferne vorgeworfen wird, eine günstigere Gelegenheit, auch seinen Pragmatismus unter Beweis zu stellen.

Mit Materialien von dpa.

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, BVerfG verhandelt über Deals im Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 07.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7465 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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