Das Who is Who der Juristerei wird da sein, wenn Karlsruhe am Mittwoch über Absprachen im Strafprozess verhandelt. Sachverständige sind der BGH-Präsident und der Generalbundesanwalt, Repräsentanten aller Berufszweige werden sich äußern. Es geht um den Handel mit Gerechtigkeit, um Konsens statt Wahrheit und eine jahrzehntelange Praxis, ohne welche die Strafgerichte handlungsunfähig würden.
Es wird nicht nur um drei konkrete Einzelfälle gehen am Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Vielmehr steht die erst drei Jahre alte gesetzliche Regelung von Absprachen im Strafprozess insgesamt auf dem Prüfstand, wenn der Zweite Senat über die Verfassungsbeschwerden dreier Verurteilter entscheidet, die alle nach solchen so genannten Deals Geständnisse ablegten und daraufhin verurteilt wurden. Sie alle wollen ihre Verurteilung nicht akzeptieren - obgleich sie selbst das Strafmaß mit ausgehandelt haben, von dem die Gerichte auch nicht abgewichen sind.
Die Fälle sind denkbar unterschiedlich. Sie zeigen, wie weit die Verständigung im Strafverfahren verbreitet ist. Traditionell wurden solche Deals eher dem Bereich des Wirtschaftsstrafrechts zugeordnet, aus dem auch zwei der in Karlsruhe verhandelten Verfahren ursprünglich kommen.
Wegen mehrfachen Anlagebetrugs wurden die Beschuldigten wie mit dem erkennenden Instanzgericht besprochen jeweils zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, nachdem sie Geständnisse abgelegt hatten. Nun kritisieren sie vor allem, dass sie nicht darüber belehrt wurden, dass das Gericht nach einer solchen Absprache noch immer von den getroffenen Vereinbarungen abweichen kann.
Vier Jahre oder zwei auf Bewährung - entscheiden Sie sich schnell
Der dritte Beschwerdeführer moniert, auf ihn sei unzulässiger Druck ausgeübt worden. Es klingt fast wie eine Art Erpressung, die sich auf dem Flur des Landgerichts Berlin zugetragen haben soll. In einer Verhandlungspause sei der Vorsitzende Richter auf den Flur gegangen und habe dem jungen Polizeibeamten und seinem mitangeklagten Kollegen ein Angebot gemacht: Wenn sie die vorgeworfene Tat sofort gestehen, könnten sie mit einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren rechnen. Andernfalls drohten ihnen vier Jahre Haft. Sie müssten sich schnell entscheiden. So schildert es eine beteiligte Anwältin in einer eidesstattlichen Versicherung.
Den damaligen Polizisten wird vorgeworfen, einem vietnamesischen Händler Schwarzmarkt-Zigaretten abgenommen zu haben, um sie für sich selbst zu behalten. Eine ernste Beschuldigung, die als schwerer Raub bestraft werden könnte - denn die beiden hatten ihre Dienstwaffen dabei.
Laut Protokoll wurde die Verhandlung um 10:50 Uhr fortgesetzt, zehn Minuten später haben die Beamten ein Formalgeständnis abgelegt. Sie bestätigten nur, dass das, was in der Anklage stehe, so richtig sei. Die anwesenden Zeugen wurden nicht mehr angehört. Ein kurzer Prozess, zwei Jahre auf Bewährung und damit auch der Verlust der Beamtenstellung für die beiden Familienväter.
Ein faires Verfahren sehe anders aus, meint der ehemalige Polizist. Die so genannte Sanktionsschere, also die große Diskrepanz zwischen der angedrohten Strafe ohne Geständnis und dem Strafmaß mit einem ebensolchen, habe ihn derart unter Druck gesetzt, dass er eine Tat gestanden habe, die er nicht begangen habe.
Auch Anwälte und Richter uneins
Nicht nur bei Rainer Hamm und Stefan König rennt der Beschwerdeführer damit wohl offene Türen ein. Die beiden Repräsentanten des Deutschen Anwaltvereins werden wie auch andere Interessenvertreter bei der Verhandlung in Karlsruhe Gelegenheit zur Äußerung bekommen.
Ihre Sicht der Dinge ist eindeutig: "Das 'Angebot' einer Strafobergrenze für den Fall eines Geständnis auf der Grundlage eines bloßen Aktenstudiums führt zu Verdachtsstrafen und wenn das Geständnis nur aus Angst vor der noch höheren Strafe abgelegt wird, sogar zu Fehlurteilen". Sie halten die Vorschrift des § 257c Strafprozessordnung (StPO), vor allem die dort ausdrücklich zugelassene Verknüpfung zwischen der Geständnisbereitschaft mit einer Strafmaßzusage, für verfassungswidrig.
Anders sieht das die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), die grundsätzlich von einer Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift ausgeht. Aus Sicht der BRAK gibt es nicht genügend Zahlen über den Umgang mit den neuen Regelungen und erst recht nicht genug Informationen über informelle Deals. Dass die Regelung des § 257c StPO vielleicht umgangen werde, ändere nichts an ihrer Verfassungsmäßigkeit, so das Fazit einer Stellungnahme der Interessenvertreter aus Juni.
Während der ebenfalls zur Äußerung eingeladene Deutsche Richterbund vorab keine Stellungnahme abgeben wollte, verlautete aus der Fachgruppe Strafrecht der Neuen Richtervereinigung, dass nicht über die Schuldfrage verhandelt werden dürfe. Das regelt zwar § 257c StPO bereits - auch die Richter haben aber, obgleich auch sie nicht von repräsentativen Zahlen ausgehen, "große Zweifel" daran, dass das in der Praxis auch entsprechend gehandhabt wird und dass es überhaupt möglich ist, diese Vorgabe in der Praxis sicherzustellen.
Kritische Sachverständige zu erwarten
Es bleibt abzuwarten, wie die Sachverständigen in dem Verfahren die Sachlage beurteilen werden. Klaus Tolksdorf, der Präsident des Bundesgerichtshofs (BGH), ist bekannt für seine kritische Einstellung zu Deals.
Auch der amtierende Generalbundesanwalt Harald Range, ebenfalls Sachverständiger im Verfahren im Karlsruhe, äußerte sich bereits im Vorfeld kritisch zu deren "nicht unbeträchtlicher Sogwirkung", die verfassungsrechtliche Prinzipien zu beinträchtigen drohe. Er forderte laut dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel in einer schriftlichen Stellungnahme, Deals "über die bisherige Rechtsanwendung hinaus" einzuschränken.
Das "Aufzeigen von Alternativstrafen" durch den erkennenden Richter könne als Drohkulisse verstanden werden, es sei zu erwägen, "ein derartiges Vorgehen gänzlich zu untersagen".
2/2: Die lange Geschichte des Handels mit der Gerechtigkeit
Absprachen aber sind seit Jahrzehnten Bestandteil des strafgerichtlichen Alltags. Für den Strafprozess, der von der Maxime der Wahrheitsfindung beherrscht wird und vertragsähnlichen Absprachen eigentlich nicht zugänglich ist, sind sie ebenso atypisch wie erforderlich. Die überlastete Justiz kann Verfahren mit Absprachen, also einem Konsens statt der Wahrheitsfindung, nicht nur schnell, effizient, sondern häufig auch zur Zufriedenheit aller Beteiligten und nicht zuletzt des Angeklagten zu Ende bringen.
Längst beenden Deals nicht mehr nur Wirtschaftsstrafsachen. Selbst bei den Schwurgerichten sind sie mittlerweile an der Tagesordnung. Die Vorschrift, über die nun Karlsruhe zu entscheiden hat, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Diskussion.
Während das BVerfG im Jahr 1987 immerhin pauschal anmahnte, es dürfe keinen "Handel mit Gerechtigkeit" geben, hielt der BGH zehn Jahre später Deals für grundsätzlich zulässig. Die Regeln, welche die Bundesrichter dabei aufstellten, fanden augenscheinlich aber wenig Beachtung.
Das Gesetz: Wahrheit, Transparenz, Überprüfbarkeit
Die besorgten Stimmen mehrten sich, bis im Jahr 2005 der Große Senat für Strafsachen des BGH zwar nicht den Deal, aber den Rechtsmittelverzicht danach für unzulässig erklärte und diesen so immerhin justiziabel machte. Sein Appell an den Gesetzgeber fand Gehör, im Jahr 2009 trat die Vorschrift des § 257c StPO in Kraft.
Danach muss das Gericht auch bei einem Deal den Sachverhalt aufklären, darf keine Absprachen über den Schuldspruch treffen und muss den Beschuldigten darauf hinweisen, dass es sich nicht an die getroffene Absprache halten muss, wenn es danach Umstände feststellt, welche die vereinbarte Strafe als nicht mehr angemessen erscheinen lassen.
Zeit soll der Beschuldigte haben, um sich die vorgeschlagenen Bedingungen durch den Kopf gehen zu lassen. Und schließlich soll der Deal transparent sein: Vor allen Beteiligten und in der Öffentlichkeit muss die Absprache getroffen werden. Das Protokoll der Hauptverhandlung soll den wesentlichen Inhalt wiedergeben. Auf Rechtsmittel kann der Angeklagte nicht verzichten, damit das nächst höhere Gericht den Deal im Zweifel überprüfen kann.
Von Anspruch und Wirklichkeit
Die Fakten scheinen eine andere Sprache zu sprechen, glaubt man einer Studie zur Praxis der Verständigung im Strafverfahren des Düsseldorfer Rechtwissenschaftlers Karsten Altenhain, den das BVerfG als Sachverständigen beauftragt hat. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung gaben unter gut 330 befragten Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern aus Nordrhein-Westfalen fast zwei Drittel der Amtsrichter an, in jeder zweiten Absprache gegen die Vorschrift des § 257c StPO zu verstoßen. Die Mehrzahl der Verteidiger hatte schon Fälle, in denen Angeklagte ein möglicherweise falsches Geständnis ablegten, um eine mildere Strafe zu bekommen. 28 Prozent der Richter überprüfen nach einer Absprache nicht mehr so genau, ob ein Geständnis auch glaubwürdig ist.
Es ist nicht die erste Studie des Düsseldorfer Rechtswissenschaftlers. Bereits 2005 befragte er Wirtschaftsstrafrechtler nach ihren Erfahrungen im Umgang mit Absprachen im Strafprozess. Dennoch darf man es als ungewöhnlich bezeichnen, dass das höchste deutsche Gericht empirische Daten darüber erheben lässt, ob Juristen sich an das Gesetz halten, wenn sie Recht sprechen.
Karlsruhe kann nur das Recht verändern, nicht die Realität. Wenn eine Vorschrift nicht eingehalten wird, sagt das über ihre Verfassungsmäßigkeit nichts aus. Aber auf dem Tisch der höchsten deutschen Richter liegt mit § 257c StPO ein Gesetz, das seinerseits vor allem geschaffen wurde, um eine längst existente Realität in Schach zu halten, die nicht mehr den Grundsätzen des Rechts unterworfen war. Dieses Ziel hat sie offenbar verfehlt.
Nun ist es am BVerfG, über viel mehr zu entscheiden als bloß über eine strafprozessuale Norm. Dass der Rechtsstaat nicht zu kurz kommen wird, darauf kann man sich verlassen. Selten aber hatte das höchste deutsche Gericht, dem gern Realitätsferne vorgeworfen wird, eine günstigere Gelegenheit, auch seinen Pragmatismus unter Beweis zu stellen.
Mit Materialien von dpa.
Pia Lorenz, BVerfG verhandelt über Deals im Strafprozess: Juristen zwischen Recht und Realität . In: Legal Tribune Online, 07.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7465/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag