Dass in Berlin wegen der vielen Pannen bei der Bundestagswahl 2021 neu gewählt werden muss, war klar. Nun steht auch der Umfang fest. Dabei kritisierte das BVerfG den Bundestag scharf, hielt sich bei der Annahme von Wahlfehlern aber zurück.
In Berlin muss die Bundestagswahl 2021 in 455 Wahlbezirken einschließlich der damit verbundenen Briefwahlbezirke wiederholt werden. Betroffen sind Erst- und Zweitstimme. Das entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am Dienstagmorgen und hielt damit die Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion im Bundestag für grundsätzlich begründet (Urt. v. 19.12.2023, Az. 2 BvC 4/23). Was den Umfang der Neuwahl angeht, blieb der Zweite Senat allerdings hinter dem Antrag der Union zurück.
Gegenstand des Verfahrens war der Beschluss des Deutschen Bundestags vom 10. November 2022, die Bundestagswahl nur in 431 der insgesamt 2.256 Berliner Wahlbezirke und 1.507 Briefwahlbezirke zu wiederholen. Den Fraktionen der Oppositionsparteien Union und AfD ging das nicht weit genug. Beide legten gegen den Bundestagsbeschluss eine Wahlprüfungsbeschwerde nach Art. 41 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ein. Die Union forderte eine Neuwahl in rund 1.200 Berliner Wahlbezirken – und scheitert damit weitgehend.
Grund für das Wahlprüfungsverfahren waren die zahlreichen Pannen bei der Bundestagswahl in Berlin am 26. September 2021. Die Mängelliste ist lang: Stimmabgaben nach 18 Uhr, lange Schlangen vor Wahllokalen, zeitweise Schließungen und falsche Stimmzettel. Bundeswahlleiter Georg Thiel hatte von einem "kompletten systematischen Versagen der Wahlorganisation" in Berlin gesprochen.
"Unzureichende Aufklärung des Wahlgeschehens"
Dass dies in einigen Wahlbezirken eine Wiederholung der Wahl nach sich ziehen würde, war längst klar. Die Frage lautete allein: in wie vielen?
Das hing maßgeblich davon ab, welche Missstände in den Wahllokalen und im Ablauf der Briefwahl als Wahlfehler zu qualifizieren sind und ob diese Wahlfehler Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Bundestags gehabt haben (Mandatsrelevanz).
Diese beiden Voraussetzungen bejahte das BVerfG in Bezug auf insgesamt 455 Wahlbezirke einschließlich der damit verbundenen Briefwahlbezirke. Im Vergleich zum Bundestagsbeschluss sind es im Ergebnis weitere 24 Wahlbezirke, in denen nun neu gewählt werden muss. Der Senat sah einerseits 31 weitere Wahlbezirke als mandatsrelevant fehlerbehaftet an, andererseits hob er den Beschluss des Bundestages bezüglich sieben Wahlbezirken auf.
Diese Entscheidung traf das Gericht auf Grundlage einer eigenen Fehlersuche. Grund dafür laut BVerfG: "Der Beschluss des Deutschen Bundestages beruht zum Teil auf einer unzureichenden Aufklärung des Wahlgeschehens." Weil der Wahlprüfungsausschuss, der den Bundestagsbeschluss vom 10. November vorbereitet hatte, nicht sorgfältig genug gearbeitet hatte, war das Gericht zu eigenen Tatsachenfeststellungen genötigt.
Wahlprüfungsausschuss hätte Niederschriften anfordern müssen
Ob und inwieweit es hierzu berechtigt ist, war einer der Streitpunkte in der mündlichen Verhandlung im Juli. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob das Gericht an die Tatsachenfeststellungen des Wahlprüfungsausschusses gebunden ist, dieser also insofern "Sperrwirkung" entfaltet. Der Prozessbevollmächtigte der Unionsfraktion, Professor Bernd Grzeszick, hatte dafür plädiert, dass das BVerfG alle relevanten Tatsachen selbst feststellen müsse. Dafür hatte er von der Richterbank keine einzige Rückfrage über sich ergehen lassen müssen, während der Prozessbevollmächtigte des Bundestags, Professor Heiko Sauer, und MdB Johannes Fechner (SPD), fast eine Stunde lang dazu befragt worden waren, warum der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags so schlampig gearbeitet hätte.
Diese Kritik findet sich auch im Urteil vom Dienstag wieder. Die Fehlersuche sei deshalb unzureichend, "da er die Niederschriften der einzelnen Wahlbezirke weder selbst ausgewertet noch deren Auswertung in sonstiger Weise veranlasst hat", wie das Gericht am Dienstag mitteilte.
Damit beanstandete das BVerfG, mit welchen Dokumenten der Ausschuss gearbeitet hatte. Dessen Bericht stützte sich vor allem auf eine von der Landeswahlleitung Berlin erstellte Liste von Auffälligkeiten, auf Berichte von Bürgern und die gegen die Wahl erhobenen Einsprüche. Niederschriften aus den einzelnen Wahllokalen hingegen hatte er nicht angefordert. Schon in der mündlichen Verhandlung hatte der berichterstattende Richter Peter Müller sein deutliches Unverständnis darüber geäußert. Wenn schon frühe Berichte nach der Wahl derart erhebliche Mängel zutage förderten, "dann schaut man sich die Dinger doch mal an", polterte er damals und fragte: "Warum hat der Bundestag von dieser naheliegenden Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht?"
Warteschlangen und Stimmabgabe nach 18 Uhr "als solche" keine Wahlfehler
Die eigene Fehlersuche war zwar aufwendig und erklärt wohl die angesichts der Wichtigkeit der Entscheidung lange Verfahrensdauer. Im Ergebnis liegt sie aber nah an der Entscheidung des Bundestages. Maßgeblich dafür war, dass das BVerfG sich hinsichtlich der Frage, was ein Wahlfehler ist, weitgehend dem Bundestag anschloss.
Im Ergebnis beanstandete das Gericht zunächst eine mangelhafte Vorbereitung der Wahl, insbesondere die unzureichende Ausstattung der Wahllokale. Tatsächlich waren diese – auch mit Blick auf Covid-Abstandsregelungen – im Durchschnitt mit etwas mehr als zwei Wahlkabinen ausgestattet. Dies sei zu wenig gewesen angesichts des Umstandes, dass in Berlin am Wahltag insgesamt sechs Kreuze zu setzen waren: zwei für die Bundestagswahl, zwei für die Wahl zum Abgeordnetenhaus, eins für die Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung und eins zum Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen. Zudem fand an dem Tag der Berlin-Marathon statt, weshalb viele Wähler erst am Nachmittag in die Wahllokale drängten.
Zur fehlerhaften Vorbereitung gehörte laut BVerfG weiterhin, dass in einzelnen Wahllokalen nicht genügend Stimmzettel vorhanden waren. Auch während der Wahl kam es zu erheblichen Fehlern: Teilweise hatten Personen, die nur zur Wahl der Bezirksverordnetenversammlung berechtigt waren, Stimmzettel für die Bundestagswahl erhalten. Auch wurden Stimmzettel unterschiedlicher Wahlkreise vertauscht.
Keine Wahlfehler sah der Zweite Senat dagegen in langen Warteschlangen und Stimmabgaben nach 18 Uhr "als solche". Eine Rechtsnorm, wonach lange Wartezeiten unzulässig sind, existiere nicht. Die Stimmabgabe nach 18 Uhr dagegen ist grundsätzlich nicht ordnungsgemäß, das ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Bundeswahlordnung (BWahlO), wonach die Wahlzeit von 8 bis 18 Uhr dauert. Das BVerfG wendete aber eine in § 60 Satz 2 BWahlO geregelte Ausnahme an, die es erlaubt, "Wähler zur Stimmabgabe zuzulassen, die vor Ablauf der Wahlzeit erschienen sind und sich im Wahlraum oder aus Platzgründen davor befinden." Dass Wahlberechtigte nicht rechtzeitig vor dem Ablauf der Wahlzeit erschienen und trotzdem zur Wahl zugelassen worden sind, sei aus den gesichteten Dokumenten "nicht ersichtlich".
Beide Umstände – überlange Wartezeiten sowie verspätete Stimmabgaben – können nach Auffassung der Richter jedoch Indizien für eine mangelhafte Vorbereitung der Wahl sein. Dies sei bei Wartezeiten von über einer Stunde bzw. Stimmabgaben nach 18:30 Uhr anzunehmen. Insofern stimmte das BVerfG einer Daumenregel des Wahlprüfungsausschusses zu.
Neuwahl am 11. Februar, Linkspartei und Wagenknecht atmen auf
Im Ergebnis hätte man sich nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung ein einschneidenderes Ergebnis vorstellen können. Möglich erschien sogar eine komplette Neuwahl in Berlin. Das hatte der Berliner Verfassungsgerichtshof für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus verfügt, die denselben Wahlpannen unterlegen hatte. Eine solche Entscheidung hätte dem Antrag der von der AfD-Fraktion eingereichten Wahlprüfungsbeschwerde entsprochen. Diese verwarf das BVerfG am Dienstag als unzulässig, ohne dass darüber bislang mündlich verhandelt worden war (Beschl. v. 19.12.2023, Az. 2 BvC 5/23).
Auch die Äußerungen von Berichterstatter Müller im Vorfeld des Verfahrens hatten auf eine weitreichendere Annullierung der Wahl in Berlin hingedeutet. Im "Einspruch"-Podcast der FAZ im Oktober 2022 hatte Müller von Zuständen wie "in einem diktatorischen sogenannten Entwicklungsland" gesprochen, in den Pannen in Berlin "wohl Wahlfehler" gesehen und gesagt, dass der Begriff Wahlfehler nach dem Landesverfassungsrecht wohl nicht anders beurteilt werden dürfte als im Bundesverfassungsrecht. Aussagen, für die ihn der Bundestag als befangen ansah; das Gericht fand jedoch eine rechtliche Möglichkeit, über einen entsprechenden Antrag gar nicht erst entscheiden zu müssen. Und so blieb Müller in dem Verfahren Berichterstatter.
Die Neuwahl wird am 11. Februar 2024 stattfinden, wie Landeswahlleiter Stephan Bröchler am Dienstag in Karlsruhe bestätigte. Dabei handelte es sich um das spätestmögliche Datum; die Neuwahl muss im Fall einer Wahlprüfungsbeschwerde vor dem BVerfG innerhalb von 60 Tagen nach der Entscheidung durchgeführt werden (§ 44 Abs. 3 Bundeswahlgesetz).
Für die Mandate der alten Linksfraktion, die sich künftig auf Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht aufteilen, wird die Neuwahl keine Auswirkungen haben. Wackelkandidaten wären bei einer umfassenderen Neuwahl die Direktmandate der Abgeordneten Gesine Lötzsch und Gregor Gysi gewesen. Das hätte die Mandate aller 39 Abgeordneten, die auf dem Ticket der Linkspartei einen Sitz ergattert haben, gefährdet. Denn die Linkspartei ist nur aufgrund der sogenannten Grundmandatsklausel – also aufgrund von drei Direktmandaten – ins Parlament eingezogen. Sie hatte nach den Zweitstimmen die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt.
Dieser Artikel wurde im Laufe des Tages bis 13 Uhr mehrfach aktualisiert.
Neuwahl in 455 Wahlbezirken: . In: Legal Tribune Online, 19.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53448 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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