2/2: Parteiverbot 2017: "Potentialität", die Grundordnung zu beinträchtigen
Das liegt daran, dass es das Merkmal des Darauf-Ausgehens um das Kriterium der "Potentialität" ergänzt. Gemeint ist damit, dass konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen müssen, dass die Partei diese Ziele möglicherweise auch erreichen könnte.
Der NPD sei das aber so das BVerfG nach einer wertenden Gesamtbetrachtung, auf absehbare Zeit nicht möglich. Einfließen lassen hat der Senat Gesichtspunkte wie die – mangelnden - Wahlerfolge der Partei, ihre Unfähigkeit, in Parlamenten mit anderen Parteien zu kooperieren sowie ihre fehlende Resonanz in der Öffentlichkeit.
Das neue Kriterium der Potentialität leitet das BVerfG ab aus dem präventiven Charakter des Parteiverbots. Eine vorbeugende Maßnahme brauche, so die Argumentation des Gerichts kurz zusammengefasst, auch ein Übel, dem sie vorbeugen könne. Fehlt es an einem Gefahrpotential, so sei auch das Parteiverbot nicht zu rechtfertigen.
Mit dem neuen Kriterium will Karlsruhe das Parteiverbotsverfahren mit der europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar machen. So will das BVerfG das deutsche Verfahren praktikabel halten, denn der EGMR verlangt für die Rechtfertigung eines Parteiverbots eine Gefahr, die von der Partei ausgeht.
Keine Verhältnismäßigskeitsprüfung – kein Ultima-Ratio-Prinzip
Auffällig ist, dass das Gericht es ausdrücklich verwirft, auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückzugreifen. Obwohl die politischen Parteien nicht dem Staat, sondern der Sphäre der Gesellschaft zuzuordnen seien, komme es nicht in Betracht, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf das Parteiverbotsverfahren anzuwenden, so der Senat. Art. 21 Abs. 2 GG regele das Parteiverbotsverfahren abschließend und lasse weder bezüglich des "Ob" noch des "Wie" eines Verbots Spielräume.
Diese Begründung überzeugt nicht restlos. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz überwölbt das Verhältnis von Staat und Bürgern und betrifft gerade auch die Frage des "Ob" einer belastenden Maßnahme. Weshalb das Parteiverbot von dieser allgemeinen Regel des Rechtsstaats ausgenommen sein soll, wird nicht klar. Über das neu gefundene Potentialitätskriterium gelangt das Gericht zwar zu einem ähnlichen Ergebnis wie über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Es gibt aber einen wichtigen Unterschied. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz würde nämlich auch verlangen, eine verfassungswidrige Partei vorrangig mit anderen und milderen Mitteln als dem Verbot zu bekämpfen, zum Beispiel durch ihre nachrichtendienstliche Beobachtung oder durch Aufklärung der Bevölkerung. Das Mittel des Verbots wäre nur die ultima ratio.
Von höchster Stelle gebrandmarkt: Und nun?
Abseits dieser Probleme aus der verfassungsrechtlichen Dogmatik wirft das Urteil auch politisch-praktische Fragen auf. Wie werden Bürgermeister künftig damit umgehen, wenn die NPD, der vom höchsten deutschen Gericht mit Brief und Siegel attestiert wurde, verfassungsfeindliche Ziele aktiv zu verfolgen, beantragt, eine Stadthalle zu nutzen? Oder wie werden Banken und Sparkassen reagieren, wenn ein NPD-Verband bei ihnen ein Konto eröffnen will? An der Rechtslage hat sich zwar nichts geändert, denn die NPD ist nach wie vor eine politische Partei, die nicht verboten wurde. Aber sie ist politisch-moralisch von höchster Stelle gebrandmarkt.
Zukünftige Verbotsverfahren werden sich, falls sich überhaupt ein Antragsteller findet, nur noch gegen politisch einigermaßen bedeutende Parteien richten. Damit ist die Strategie kleiner, extremer Gruppierungen wie "Die Rechte" oder "Der III. Weg" vorläufig bestätigt, sich unter den Schutz des Parteienstatus zu begeben, um nicht nach dem Vereinsgesetz verboten zu werden. Abzuwarten bleibt allerdings, ob diese Gruppierungen es schaffen werden, längerfristig immer wieder an Wahlen teilzunehmen, Rechenschaftsberichte einzureichen und Parteitage abzuhalten, um so den Anforderungen zu genügen, die das Recht an Parteien stellt, oder ob sie ihren Parteienstatus einbüßen.
Ob eine gute Idee ist, unter bestimmten, verfassungsrechtlich noch zu normierenden Voraussetzungen verfassungsfeindlichen Parteien, denen es zu einem Verbot nur an Bedeutung fehlt, zumindest die staatliche Parteienfinanzierung zu kürzen, mag man bezweifeln, auch wenn der Senatsvorsitzende Andreas Voßkuhle das bei der Urteilsverkündung en passant anregte. Ein Zwei-Klassen Parteiensystem stünde im Widerspruch zur Wettbewerbsgleichheit der Parteien und wäre Wasser auf die politischen Mühlen der Paria-Parteien.
Bei allen offenen Fragen und aller Kritik im Detail: Die Entscheidung des BVerfG präzisiert die Voraussetzungen. Karlsruhe hat das Parteiverbotsverfahren auf den rechtlichen Stand von heute gebracht.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, Kein Partei-Verbot: . In: Legal Tribune Online, 17.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21803 (abgerufen am: 02.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag