Bundesgesetze dürfen völkerrechtliche Verträge verdrängen. Das BVerfG ermöglicht es damit dem deutschen Gesetzgeber, auch künftig Steuerschlupflöcher zu schließen. Demokratie und Rechtsstaat gebieten dieses Ergebnis, meint Joachim Wieland.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat auf eine Vorlage des Ersten Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) die seit langem gefestigte Verfassungsrechtslage bestätigt, dass nur allgemeine Regeln des Völkerrechts den Gesetzen vorgehen. So regelt es explizit Art. 25 Grundgesetz (GG).
Völkerrechtliche Verträge dagegen bedürfen für ihre innerstaatliche Wirksamkeit gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG eines Bundesgesetzes. Sie haben folglich nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. In der Konsequenz kann sich ein späterer Gesetzgeber kraft seiner stärkeren demokratischen Legitimation über das frühere Zustimmungsgesetz hinwegsetzen (BVerfG, Beschl. 15.12.2015, Az. 2 BvL 1/12). Macht er von dieser Möglichkeit Gebrauch, kann das gegen völkervertragsrechtliche Verpflichtungen Deutschlands verstoßen. Innerstaatlich gilt dennoch das spätere Gesetz.
Treaty Override: Meinungswandel beim BFH
Der BFH hat es bis vor wenigen Jahren stets für zulässig gehalten, dass der Bundesgesetzgeber völkerrechtliche Verträge über die Vermeidung einer Doppelbesteuerung "überschreibt", sich also über diese hinwegsetzt, wenn er das nur hinreichend deutlich macht (sogenannter "Treaty Override"). Die gesetzliche Neuregelung verhindert in solchen Fällen, dass ein Steuerpflichtiger in beiden Vertragsstaaten unbesteuert bleibt und sogenannte "weiße Einkünfte" entstehen.
In dem den Münchner Richtern jetzt vorliegenden Fall hatte der Kläger nicht nachgewiesen, dass er Einkünfte als Geschäftsführer in der Türkei versteuert hatte. Er sollte diese deshalb gemäß § 50d Abs. 8 Einkommensteuergesetz in Deutschland versteuern.
Diese Regelung hielt der Erste Senat des BFH nun für verfassungswidrig. Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG sei der Gesetzgeber nämlich verfassungsrechtlich verpflichtet, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu beachten. Diese Pflicht sollte sich nach Auffassung des BFH auf das gesamte Völkervertragsrecht beziehen. In der Konsequenz dieser Auffassung hätte der Gesetzgeber weiße Einkünfte nicht verhindern können, solange die Vertragspartner das einschlägige Doppelbesteuerungsabkommen nicht änderten.
Ständige Rechtsprechung des BVerfG
Auf den Vorlagebeschluss des BFH hin hat das BVerfG seine ständige Rechtsprechung bekräftigt, dass Art. 59 Abs. 2 GG völkerrechtlichen Verträgen innerhalb der Normenhierarchie keinen Rang über den Gesetzen einräumt.
Dementsprechend geht eine spätere gesetzliche Regelung dem früheren Zustimmungsgesetz vor, auf dem die innerstaatliche Wirksamkeit des Vertrages beruht. Das BVerfG betont zu Recht, dass Demokratie Herrschaft auf Zeit ist. Der spätere Gesetzgeber kann folglich Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber aufheben oder ändern. Er ist gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, nicht aber an ältere Gesetze.
Das BVerfG stellt klar, dass es auch in seinem Görgülü-Beschluss zur EMRK (BVerfG, Beschl. v. 14.10. 2004, Az. 2 BvR 1481/04) nicht entschieden habe, dass der Gesetzgeber nur zur Wahrung tragender Verfassungsgrundsätze von völkerrechtlichen Verträge abweichen dürfe. Auch verpflichteten weder der verfassungsrechtliche Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit noch das Rechtsstaatsprinzip Deutschland zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Verträge.
Das Demokratieprinzip geht vor
Doris König zweifelt in ihrer abweichenden Meinung den Vorrang des Demokratieprinzips vor der völkervertragsrechtlichen Bindung Deutschlands unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip an. Dieses Sondervotum der auf das Recht der Europäischen Integration spezialisierten Professorin und ehemaligen Präsidentin der Bucerius Law School vermag nicht zu überzeugen.
Das Rechtsstaatsprinzip kommt zuvörderst in den Bestimmungen des Grundgesetzes zum Ausdruck. Gemäß Art. 25 GG gehen aber ausdrücklich nur die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und gerade nicht alle völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands den Gesetzen vor. Art. 20 Abs. 3 GG bindet den Gesetzgeber nur an die verfassungsmäßige Ordnung, nicht hingegen an Gesetz und Recht. Das Rechtsstaatsprinzip streitet damit für und nicht gegen die Zulässigkeit des "Treaty Override".
Der BFH muss also auch in Zukunft steuerrechtliche Normen anwenden, die für die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sorgen, selbst wenn das mit einzelnen Doppelbesteuerungsabkommen nicht übereinstimmen sollte.
Der Autor Prof. Dr. Joachim Wieland lehrt Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.
Joachim Wieland, BVerfG zum Vorrang von Bundes- vor Völkerrecht: . In: Legal Tribune Online, 15.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18462 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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