Nach BVerfG zur Bundesnotbremse: Zer­stö­re­ri­sches Poten­tial für den Ver­fas­sungs­staat

Gastkommentar von Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago)

03.12.2021

Sollte das BVerfG durch verfassungsrechtliche Abstinenz der Politik einen Dienst erweisen haben wollen, so hat es viel Schaden angerichtet, meint Oliver Lepsius. Warum Kommentare die Entscheidung nicht zitieren sollten. 

Mit den Beschlüssen zur sog. "Bundesnotbremse" möchte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eine Zwickmühle bewältigen. Auf der einen Seite soll die aktuelle Pandemiepolitik nicht durch verfassungsrechtliche Grenzen behindert werden. Das Signal ist insoweit klar: Der Gesetzgeber hat ganz weitgehend freie Bahn. Auf der anderen Seite will das Gericht dem Vorwurf entgegenwirken, es ducke sich weg oder gebe den Vorrang der Verfassung preis. Politische Gestaltungsfreiheit soll mit dem Vorrang der Verfassung verbunden werden.  

Die vom Präsidenten des BVerfG angekündigte Orientierungswirkung der Entscheidungen sieht kurzgefasst so aus: Die Ausgangssperre bleibt im Instrumentenkasten der Pandemiepolitik. Das war rechtlich und politisch sehr umstritten. Die Kontaktbeschränkungen bleiben auch im Instrumentenkasten. Das war rechtlich und politisch ziemlich unbestritten. Zu der Abwägung und Lastenverteilung, welche Lebensbereiche Kontaktbeschränkungen erbringen müssen und welche nicht, sagt der Senat nichts.  

Der Gesetzgeber habe jedenfalls Rücksicht genommen und bewege sich im Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum. Ungleichheit ist kein Thema. Schulschließungen werden aus dem Instrumentenkasten herausgenommen. Zwar waren sie im April 2021 noch verhältnismäßig. Man darf den Senat jedoch so verstehen, dass sie es unter den heutigen Bedingungen nicht mehr sind und zwar nicht in erster Linie wegen des Pandemieverlaufs, sondern wegen der weitreichenden sozialen und psychischen Folgen für junge Menschen ohne ernsthaftes Erkrankungsrisiko.  

Ein prozessuales Unglück für das BVerfG – mit Folgen 

Das wohl folgenschwerste Ergebnis ist, dass das BVerfG das selbstvollziehende Gesetz als eine Handlungsoption in den Formenkasten des Rechtsstaats aufgenommen hat. Der zu entscheidende Sachverhalt, das Gesetz zur Bundesnotbremse, ist insofern ein prozessuales Unglück. Das BVerfG hatte wegen der strengen Handhabung der Zulässigkeitskriterien zahlreiche Verfassungsbeschwerden gegen den Maßnahmenkatalog des Infektionsschutzgesetzes als unzulässig behandelt und an die prinzipale Normenkontrolle bei den Oberverwaltungsgerichten verwiesen. Nach dieser prozessualen Logik konnte der Senat erst jetzt beim Vorliegen eines selbstexekutiven Bundesgesetzes entscheiden, weil nun der Rechtsweg zu den Fachgerichten abgeschnitten war. Um etwas zum Maßnahmenkatalog sagen zu können, musste das selbstexekutierende Gesetz jedoch grundsätzlich für zulässig erklärt werden. Die inhaltliche Orientierungswirkung, die der Senat nach Auskunft seines Vorsitzenden geben wollte, war nur um den Preis einer formalgesetzlichen Neuausrichtung zu haben. Sie eröffnet überdies eine Blaupause für die Umsetzung von Klimaschutzzielen via Legalplanung, was im Einklang mit der klimapolitischen Positionierung des Senats steht. 

Durch den prozessrechtlich selbst erzeugten Entscheidungsdruck kommt der Senat nun in Nöte, rechtsstaatliche Grundfragen (Gewaltenzuordnung, Bund-Länder-Verhältnis, aber auch Grundrechtsvorbehalte) mitentscheiden zu müssen, nur um letztlich kontextuelle Prüfungen der Verhältnismäßigkeit bestimmter Mittel vornehmen zu können.  

Neue Rechte-Versprechen werden gleichzeitig nicht eingelöst 

Das BVerfG kann die Pandemiepolitik nur in Gestalt der gerügten Grundrechte überprüfen: Einzelne Maßnahmen müssen auf einzelne Grundrechte bezogen werden. Die Differenzen um das Strategiedesign in der Pandemie zwischen Bund (modelltheoretisch vorgehende Expertise) und Ländern (empirisch begründete Expertise, lokale, bereichsspezifische Handlungsweise) – allen voran Nordrhein-Westfalen – machten den politischen Hintergrund der Bundesnotbremse aus. Sie werden allerdings rechtlich dann zu einer Frage, in der sich scheinbar singuläre Freiheitsbedürfnisse gegen kollektive Gesundheitsinteressen stellen müssen. Die juristische Prüfung setzt sich mit individueller Beschwer auseinander und will zugleich doch eine verfassungsrechtliche Orientierung für die Pandemiepolitik im Ganzen erbringen. Solche Konstellationen, in denen subjektive Rechte als Türöffner für eine allgemeine Maßstabsbildung und sogar die Fortbildung des Verfassungsrechts fungiert haben, sind nicht neu. Dem BVerfG gelang es mit Hilfe der "Elfes-Konstruktion" oft, diesen Spagat zu bewältigen. Es teilt bisweilen auch neue subjektive Rechte zu, um sich einen Kontrollzugriff zu ermöglichen (Maastricht-Urteil, Klimaschutzbeschluss, jetzt Recht auf schulische Bildung). 

Hier gelingt dem Senat der Spagat jedoch nicht. Auf der Haben-Seite stehen zunächst zahlreiche Schutzbereichserweiterungen. Mit beliebigen Menschen zusammenzutreffen gehört jetzt zur Handlungsfreiheit, anderen Menschen begegnen zu können, ist ein Persönlichkeitsrecht. Die Patchworkfamilie wird unter Art. 6 Grundgesetz (GG) geschützt. Aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein neues Recht auf schulische Bildung. Der Senat komplettiert die Grundrechte für die Bedrohungslagen der Pandemiepolitik. Das ist gut, denn bei der prinzipalen Normenkontrolle vor den Oberverwaltungsgerichten ging es im Wesentlichen um Wirtschaftsrechte, was den sozialen Eingriffsdimensionen nicht gerecht wurde. Nur ist diese Schutzbereichsausweitung ergebnislos; die Rechte-Versprechen werden gegenüber der Bundesnotbremse nicht eingelöst, auch nicht beim schulischen Unterrichtsrecht. Kein Grundrechtseingriff war – Stand April 2021 – zu beanstanden. 

Von einer Eisenbahnstrecke 1996 zum pandemischen Umbau des Rechtsstaats 2021 

Auf der Soll-Seite stehen dann jedoch erhebliche Eingriffe in die verfassungsrechtliche Tektur des Rechtsstaats. Der Senat billigt in Gestalt des selbstvollziehenden Gesetzes den Parlamentsabsolutismus obwohl das Gericht in ständiger Rechtsprechung immer betonte, "die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden", so in seiner Kalkar-Entscheidung 1978. Mit dieser ständigen Rechtsprechung setzt sich der Senat nicht auseinander. Er stützt sich auf zwei schon in der Sache nicht einschlägige Entscheidungen (Legalplanung Stendal; gesetzliche Verleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften in Bremen). Wer hätte gedacht, dass eine Eisenbahnstrecke 25 Jahre später den pandemischen Umbau des Rechtsstaats rechtfertigen kann?  

Wenn man den Parlamentsabsolutismus akzeptiert, dann muss man aber auch verfassungsrechtliche Gegenkräfte vorsehen, damit die rechtsstaatliche Grundstruktur stimmt. Der Senat räumt den Weg aber nur frei. Er teilt den Pandemie-Schock, der den Blick für das Gesamte verstellt. Aus der Gewaltenteilung sollen jedenfalls keine checks and balances folgen. Eine Feinsteuerung durch die Verwaltung mit ihrer freiheitssichernden Abwägungsleistung in Gestalt der Einzelfallkonkretisierung ist offenbar verzichtbar. Auch mit dem dadurch über Bord gehenden Rechtsschutz "wäre nicht viel gewonnen", lesen wir. Verwaltungsrechtler und Verwaltungsrichter dürfen sich düpiert fühlen. Die horizontale Gewaltentrennung (Bund-Länder) bringt auch keine checks and balances; sie auszuschalten, war ja gerade die Absicht der Bundesregierung. Und im Bundesrat zustimmungsbedürftig sei das Gesetz auch nicht. 

Aus den Grundrechten folgen auch keine Grenzen, weil die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Leerlauf gestellt wird: Der Senat legt schon kein Ziel fest, an dem er prüft, sondern bezieht Pandemiepolitik auf ein unsortiertes Bündel von höchstpersönlichen, individuell-graduellen und kollektiv-graduellen Rechtsgütern (Leben, Gesundheit, Gesundheitssystem). Die Maßnahmen lassen sich nicht auf Effekte beziehen, weil sie als "Gesamtschutzpaket" nicht isoliert gesehen werden dürfen. Eine Mittelkontrolle scheitert überdies auf der Ebene der Erforderlichkeitsprüfung, die völlig dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers überantwortet wird. Die Vertretbarkeitskontrolle wird nicht eingelöst, wenn immer dieselbe Expertise in allen Gewalten durchgereicht wird. Schließlich wird auch noch die Einschränkbarkeit der Fortbewegungsfreiheit von einem mehrstufigen prozeduralen Schutzkonzept auf einen Gesetzesvorbehalt umgestellt. 

Zertifiziert das BVerfG einen Bedeutungsverlust des Rechts? 

Manche Aussagen der Entscheidungen lassen sich zeitlich und gegenständlich im Wege des distinguishing, also des Abschichtens von Fällen, auf einen konkreten Rechtszustand im April 2021 reduzieren. Und das Beste, was man machen kann, ist, diese Aussagen zu kontextualisieren und zeitlich zu "distinguishen", ihre Präzendenzwirkung damit zu begrenzen. 

Viele Aussagen ergehen aber grundsätzlich und ohne Distinktionspotenzial: die Zulässigkeit des selbstexekutierenden Gesetzes, der Umbau des Art. 104 GG, die (schlicht falsche) Aussage, auch bei der (ja rein normativen) Angemessenheitsprüfung gelte ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum (der sich aber doch nur auf Tatsachen beziehen kann). Hier liegt das zerstörerische Potenzial von "Bundesnotbremse I". Vielleicht sollte man die letzte Randnummer dieses Beschlusses, umfassende Ausgangsbeschränkungen kämen "nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht", als Interpretationsermächtigung verstehen, die ganze Entscheidung nur auf eine Gefahrenlage im April 2021 zu beziehen. Zur Dogmatisierung und Vermaßstäblichung darf sie nicht herangezogen werden; Kommentare sollten sie nicht zitieren. Orientierungswirkung hat sie dann keine. 

Wäre das schlimm? Nein, das ist geboten. Ansonsten zertifizierte das BVerfG einen Bedeutungsverlust des Rechts. Die Verfassung erlaubt keine Expertenherrschaft, die sich nur auf die Mehrheit der Kanzlerdemokratie stützt. Das BVerfG irrt, wenn es meinen sollte, dem politischen System durch verfassungsrechtliche Abstinenz einen Dienst zu erweisen. Wird ein Themenfeld, wie hier durch den Senat, de facto politisiert und expertokratisiert, dann bedarf es Stoppregeln. Das Argument der Verfassungswidrigkeit darf nicht aus dem Instrumentenkasten der Politik herausgenommen werden, was es hier aber wird. Sonst können sich Politiker auch nicht gegen einen aufgeheizten und unter den Medienrationalitäten der Gegenwart tendenziell radikalisierenden öffentlichen Diskurs behaupten, in dem gegen Recht und Freiheit mit dem Argument gewettert wird, es stünden Leben auf dem Spiel. Gegen die Behauptung, Leben zu riskieren, kann sich Politik nur durch den Rekurs auf Recht behaupten. Der abwägende Sachdiskurs kommt ohne Recht als Argument nicht aus. Insofern hat das BVerfG nicht nur der Verfassungsordnung, sondern auch dem politischen System einen Bärendienst erwiesen.

Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago) hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der WWU Münster inne.  

Zitiervorschlag

Nach BVerfG zur Bundesnotbremse: . In: Legal Tribune Online, 03.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46831 (abgerufen am: 18.11.2024 )

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