Die Verfassungsbeschwerde des Spiegel wegen fehlender Anhörung in Presserechtsverfahren hatte Erfolg. Erneut. Das BVerfG hatte dazu bereits mehrfach entschieden und zeigt sich angesichts der Beharrlichkeit des OLG Hamburg nicht amüsiert.
Es muss oft schnell gehen im Presserecht. Wer wegen einer Berichterstattung seine Persönlichkeitsrechte als verletzt ansieht, beantragt häufig eine Unterlassungsverfügung im einstweiligen Rechtsschutz. Hier war ständige Rechtspraxis, dass die Verfahren zunächst einseitig blieben. Der Antragsgegner, etwa eine Zeitung, wurde nicht angehört und die Verfügung erlassen. Auch wenn das Gericht Bedenken gegen den Erlass hatte, wurde mit dem Antragsteller Rücksprache gehalten, der daraufhin seinen Antrag anpassen konnte, ohne dass die Gegenseite eingebunden wurde.
BVerfG ging von Umsetzung seiner Rechtsprechung aus
Dieser Praxis schob das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eigentlich schon 2018 in zwei Leitentscheidungen einen Riegel vor. Es entschied, dass das Recht auf prozessuale Waffengleichheit vorschreibe, dass ein Gericht "der Gegenseite vor einer stattgebenden Entscheidung über den Antrag einer Partei (...) Recht auf Gehör gewähren muss". Auch wenn in Pressesachen häufig eine schnelle Entscheidung vonnöten sei, weil Internet und soziale Medien den Informationsfluss enorm beschleunigten und damit zu langes Warten den effektiven Rechtsschutz gefährden könne, bedeute dies noch lange nicht, "dass die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs als solche der Gegenseite verborgen bleibt". Dabei entschied das BVerfG, dass es unter bestimmten Voraussetzungen zwar reichen kann, wenn der Gegenseite Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung eingeräumt werden, dies aber unter anderem dann nicht der Fall sei, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise erteilt. In diesem Fall liege eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit vor, wenn eine Einbindung der Gegenseite unterbleibe.
Nach diesem Beschluss ging das BVerfG davon aus, dass sich die Gerichte an die Vorgaben halten würden. Weitere Verfassungsbeschwerden, die vor der Leitentscheidung eingelegt wurden, nahm es 2019 mit der Erwägung nicht zur Entscheidung an, dass eine "Wiederholungsgefahr nicht ersichtlich sei".
Doch es irrte, wie unter anderem die am Freitag öffentlich gewordene Entscheidung zeigt. Hintergrund des Verfahrens war ein Spiegel-Interview, in dem der Name eines Kreuzfahrtunternehmens in Zusammenhang mit Verbrechen und Sicherheitsfragen erwähnt wurde. Dieses mahnte den Spiegel daraufhin anwaltlich ab – erfolglos. Daher stellte das Unternehmen beim Landgericht (LG) Hamburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Unterlassungsverfügung. Der begehrte Unterlassungstenor entsprach zu Beginn der zuvor außergerichtlich geforderten Unterlassungserklärung. Das LG informierte den Anwalt des Unternehmens nach einer vorläufigen Beratung, dass die Anträge keine Aussicht auf Erfolg hätten. In der Folge formulierte das Unternehmen den ursprünglich gestellten Antrag um und ergänzte zwei Hilfsanträge. Doch auch diesen nachgebesserten Antrag wies das LG per Beschluss zurück.
Bei Antragsänderung Einbindung der Gegenseite
Das daraufhin angerufene Oberlandesgericht (OLG) Hamburg wies dann den Anwalt des Unternehmens darauf hin, dass man nur einem bestimmten Antrag stattgeben werde. Die übrigen Anträge nahm das Unternehmen daraufhin zurück. Das OLG erließ anschließend eine einstweilige Unterlassungsverfügung – "der Dringlichkeit wegen ohne mündliche Verhandlung" gegen den Spiegel. Der wurde allerdings zuvor nicht angehört. Er rügte vor dem BVerfG eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.
Das BVerfG gab dem Spiegel nun unter Hinweis auf seine vorangegangene Rechtsprechung recht und der Verfassungsbeschwerde statt (Beschl. v. 01.12.2021, Az. 1 BvR 2708/19). Ausprägung des Grundsatzes der Waffengleichheit sei der Gehörsgrundsatz. Dies beinhalte die Gelegenheit, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nahmen. Entbehrlich sei eine Anhörung nur in Ausnahmefällen.
Es wiederholte auch die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise eine Anhörung unterbleiben könne. Hierzu müsse die Gegenseite durch Abmahnung eine Erwiderungsmöglichkeit erhalten haben. Im Falle einer Antwort müsse diese dem Gericht vollständig vorgelegt werden. Voraussetzung für das Unterbleiben der gerichtlichen Anhörung der Gegenseite sei aber, dass die abgemahnte Äußerung und die Begründung der Unterlassung mit dem Unterlassungsbegehren bei Gericht übereinstimmen. Wenn hingegen der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird, müsse der Gegenseite Gehör gewährt werden. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt.
Recht des Spiegels auf prozessuale Waffengleichheit wurde verletzt
In dem konkreten Fall hätte das OLG Hamburg den Spiegel anhören müssen, so das BVerfG. Zwar habe das Kreuzfahrtunternehmen den Spiegel vorprozessual abgemahnt. Der bei Gericht eingereichte Verfügungsantrag, dem der Senat stattgab, entsprach jedoch nicht mehr der Abmahnung. Er sei wesentlich verändert worden. Das Unternehmen habe wegen gerichtlicher Hinweise die Möglichkeit gehabt, mehrfach und flexibel nachzusteuern, um ein positives Ergebnis zu erreichen – der Spiegel hingegen hätte keinerlei Möglichkeit dazu gehabt. Er habe bis zur Gerichtsentscheidung nicht einmal gewusst, dass gegen ihn ein Verfahren geführt werde. Spätestens das OLG hätte ihn darüber in Kenntnis setzen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu den geänderten Anträgen geben müssen.
Schon 2021 hatte das BVerfG moniert, dass das OLG Hamburg seine Rechtsprechung nicht umsetze, damals griff es sogar in ein laufendes Eilverfahren ein. Zwar bezog sich dieser Beschluss auf einen jüngeren Sachverhalt als derjenige der heute bekannt gewordenen Entscheidung. Insofern kann dem OLG also nicht vorgeworfen werden, einen weiteren BVerfG-Beschluss missachtet zu haben. Doch allein die wiederholte Missachtung der klaren Grundsätze aus den 2018er-Beschlüssen führte beim BVerfG zum Misstrauen – deshalb lehnte es diesmal die Wiederholungsgefahr nicht ab, zumal es in den letzten Jahren auch Waffengleichheitsverstöße anderer Gerichte feststellte.
BVerfG rügt Missachtung seiner Rechtsprechung
Das BVerfG rügt das OLG in deutlichen Worten, seine Rechtsprechung zu beachten. Wörtlich heißt es: "Der wiederholte Verstoß des Pressesenats des Oberlandesgerichts gegen das Gesetz der Waffengleichheit bei einstweiligen Anordnungen gibt Anlass, auf die rechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen." Das BVerfG kündigt an, bei zukünftiger Missachtung der Rechtsprechung ein Feststellungsinteresse für eine Verfassungsbeschwerde oder einen Antrag auf einstweilige Anordnung "stets als gegeben" anzusehen.
Spiegel-Anwalt Dr. Marc-Oliver Srocke äußerte gegenüber LTO, dass nach den vielen Beschlüssen des BVerfG zu der Problematik die Fachgerichte nun die Vorgaben der Anhörung weitgehend beachten: "Der Kampf für Waffengleichheit und ein faires Verfahren hat sich in jedem Fall gelohnt hat, da jedenfalls die Kernvorgaben dieser Entscheidung heute an den meisten Instanzgerichten Berücksichtigung finden, wobei insbesondere in Hamburg noch Luft nach oben zu verzeichnen ist."
Spiegel siegt wegen fehlender Anhörung: . In: Legal Tribune Online, 11.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47509 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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