BVerfG zur Äußerung über Naidoo - "Er ist Antisemit": Wenn die Rea­lität die Ent­schei­dung über­holt

von Dr. Felix W. Zimmermann

22.12.2021

Die Verfassungsbeschwerde einer Referentin der Amadeu Antonio Stiftung gegen das Verbot, Xavier Naidoo als "Antisemit" zu bezeichnen, hatte Erfolg und die Geschichte gibt ihr ohnehin recht. Überzeugt auch die Begründung des BVerfG? 

"Xavier Naidoo ist Antisemit". Wer das Ende Dezember 2021 sagt, ist rechtlich auf der sicheren Seite, nicht erst seit dem am Mittwoch veröffentlichten Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Entschieden wurde in dem Verfahren über die Lage im Jahre 2018 und 2019. Der Popsänger hat inzwischen nachgelegt. Im Juni 2021 verbreitete Naidoo auf Telegram ein Video, in dem der Holocaust als "gelungene historische Fiktion" und "Märchen" bezeichnet wird, wie der Tagesspiegel recherchierte. Dazu postete Naidoo  "@FREIHEITmachtWAHR", was sehr an die nationalsozialistische Phrase in Konzentrationslagern "Arbeit macht frei" erinnert. Der "Zentralrat der Juden" sei ein "Zentralrat der Lügen". Und es gibt weitere ähnliche Posts, die in diese Richtung gehen. Somit darf mittlerweile fraglos die Meinung vertreten werden, dass Naidoo "Antisemit" ist – unabhängig von der BVerfG-Entscheidung von Mittwoch. 

Doch als eine Referentin des Amadeu Antonio Stiftung dies im Jahr 2017 sagte, war die Beweislage ungleich dünner. Auf Klagen von Naidoo verboten Gerichte ihr die Aussage. Konkret sagte sie: "Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaube ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar." 

Die Referentin stützte die Verteidigung ihrer Äußerung vor allem darauf, dass Naidoo mit Reichsbürgern sympathisiere sowie auf eine Zeile aus dem Lied des Sängers mit dem Titel "Raus aus dem Reichstag", in dem es in einer Strophe heißt: "Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist'n Fuchs und ihr seid nur Trottel". 

Dies seien antisemitische Codes, argumentierte die Referentin. "Totschild" sei eine Anspielung auf die Rothschild-Bankiersfamilie und "Schmock" ein jiddisches Schimpfwort, was in Verbindung mit einem Fuchs gesetzt und so Juden mit listigen todbringenden Verhalten in Verbindung bringe. Naidoo bestritt dagegen jeden Antisemitismus, verwies auf sein Engagement gegen Rassismus, jüdische Freunde und seinen jüdischen Konzertmanager. Bei den Textpassagen zu Baron Totschild sei es ihm um Kritik an der Bankenkrise gegangen und darum, dass Gerhard Schröder als Berater zur Rothschild-Bank gegangen sei, zudem verwies er auf die Kunstfreiheit.*

Auf der Suche nach einer mehrdeutigen Äußerung 

Für die Vorinstanzen reicht die Liedzeile sowie die Reichsbürgernähe für die Bewertung von Naidoo als "Antisemit" nicht aus. In umfangreichen Abwägungen kamen das Landgericht Regenburg (Urt. v. 17.07.2018 - 62 O 1925/17) und Oberlandesgericht Nürnberg (Urt. v. 22.10.2019, Az. 3 U 1523/18) zu dem Schluss, dass das Persönlichkeitsrecht von Xavier Naidoo gegenüber der Meinungsfreiheit der Referentin überwiege, ihm ein Unterlassungsanspruch zustehe.  

Auf die Verfassungsbeschwerde der Referentin hin entdeckte das BVerfG nun drei Rechtsfehler und hob die Urteile auf (Beschl. vom 11.11.2021, 1 BvR 11/20):

Zum ersten hätten die Gerichte es unterlassen, der Aussage der Referentin einen konkreten Sinn beizumessen, so das BVerfG. Dies sei aber erforderlich, um in der Abwägung einschätzen zu können, wie schwerwiegend die Ehre von Naidoo beeinträchtigt ist. Die Vorinstanzen hatten nicht eine, sondern verschiedene Interpretationen von Antisemitismus zugrunde gelegt und auch die schlimmstmögliche Deutung mit einbezogen: "Antisemit" beschreibe eine Person, die die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch nationalsozialistisch fundiertes Gedankengut grob verletzt und diese Gesinnung möglicherweise mit Gewalt in die Tat umsetze. 

Mit diesem Vorgehen wollte das OLG Nürnberg eigentlich die Vorgaben des BVerfG zu mehrdeutigen Äußerungen erfüllen. Nach dieser Rechtsprechung gilt nämlich für einen Unterlassungsanspruch, dass bei mehrdeutigen Äußerungen diejenige in der Abwägung zugrunde zu legen ist, die den Betroffenen am stärksten in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt. Doch setzt die Anwendung dieses Maßstabs voraus, dass überhaupt eine mehrdeutige Äußerung vorliegt. Nach Ansicht des BVerfG ist das aber nicht der Fall. Ohne Begründung beurteilt das BVerfG die vom OLG Nürnberg vertretene Auffassung als "fernliegend", vielmehr sei die Äußerung der Referentin "unzweideutig" dahin zu verstehen, dass Naidoo den Reichsbürgern nahestehe und in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage.  

BVerfG geht von eindeutiger Aussage aus 

An dieser Stelle setzt sich das BVerfG mit den Erwägungen der Vorinstanzen, etwa was die Differenz zwischen der Einstufung eines Menschen als "Antisemit" oder der Verbreitung "antisemitischer Inhalte" angeht, nicht auseinander. Ebenfalls geht das Gericht mit keinem Wort auf die Frage ein, ob es nicht unter den Aspekten der durch Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz geschützten Kunstfreiheit einen Unterschied machen muss, ob sich eine derartige Zeile in einem Liedtext oder einer öffentlichen Aussage findet. So fehlt dann auch dem Beschluss an dieser Stelle mangels differenzierender Erwägungen die Überzeugungskraft. Es ist gesellschaftliche Realität, dass unter dem Begriff "Antisemit" unterschiedliche Dinge verstanden werden, wie die Vorinstanzen minutiös aufgezeigt haben. Das BVerfG macht es sich daher zu einfach, wenn es der Äußerung der Referentin einen eindeutigen Inhalt beimessen will. 

Zum zweiten monierte das BVerfG, dass die Vorinstanzen in der Äußerung der Referentin auch Elemente einer falschen Tatsachenbehauptung sahen. Konkret geht es dabei um die Äußerung, es sei "strukturell nachweisbar", dass Naidoo "Antisemit" sei. Hierin kann nach Ansicht der Vorinstanzen die Behauptung gesehen werden, die Referentin habe Beweise dafür, dass Naidoo Antisemit ist. Solche Beweise lägen aber nicht vor. Das BVerfG tritt dem entgegen. Lapidar stellt es fest, der Satz "Das ist strukturell nachweisbar" sei keine Tatsachenbehauptung sondern Meinung, womit es auch nicht auf Belege ankomme. Eine Begründung hierfür liefert die Kammer nicht. Das Ergebnis kann gleichwohl überzeugen, denn die bloße Referenz auf eine "Struktur" ist eine substanzarme Darstellung unter der sich Zuhörer:innen gerade keine konkreten Tatsachen oder Beweise vorstellen. Dies gilt umso mehr, als der Begriff des "Antisemiten" gerade mehrdeutig ist, wie die Instanzgerichte zutreffend feststellten. Entsprechend inkonsequent war es dann jedoch von ihnen, der Äußerung Antisemitismus sei "strukturell nachweisbar" einen tatsächlichen Gehalt zuzuweisen. 

Zum dritten hält das BVerfG es für verfassungswidrig, dass das OLG Nürnberg eine Prangerwirkung von Naidoo feststellte und dies in der Abwägung zu seinen Gunsten berücksichtigte. Das OLG Nürnberg sieht in der Charakterisierung als "Antisemit" vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte einen besonders intensiven Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Hiermit sei eine Prangerwirkung verbunden, die geeignet ist, den Kläger in der Öffentlichkeit in ein negatives Licht zu rücken, was sich abträglich auch auf seinen Beruf als Künstler auswirke. Für das BVerfG liegt jedoch eine Prangerwirkung "völlig fern", da sich Naidoo freiwillig in den öffentlichen Raum begeben habe. Naidoo dürfe auch kein besonderer Schutz mit der Argumentation zugesprochen werden, dass er die Öffentlichkeit suche und von der Zustimmung seines Publikums abhängig sei. Denn ansonsten würde eine Kritik an seinen Äußerungen unmöglich gemacht. Es müsse aber eine Diskussion über seine Liedtexte und Äußerungen möglich sein.  

Auf dem Weg in US-amerikanische Verhältnisse? 

Die Begründung des BVerfG ist hier an sich völlig zutreffend. Wer öffentlich auf Reichsbürgerveranstaltungen spricht, kann sich später nicht darauf berufen, dass scharfe Kritik an solchen Auftritten im Zusammenhang mit weiterem öffentlichen Wirken eine Prangerwirkung darstellt. Doch durfte die "scharfe Kritik" auch soweit gegen, Naidoo schon damals "Antisemit" zu nennen? Diese Kernfrage des Rechtsstreits entscheidet das BVerfG zwar zwischen den Zeilen eindeutig mit "ja", doch auch hier fehlt erstaunlicherweise jedwede nähere Begründung; der apodiktisch-oberflächliche Stil des BVerfG wird den vorinstanzlichen ausführlichen Abwägungsüberlegungen nicht gerecht.* Die weitere Erwägung des BVerfG, Naidoo könne sich gegen den Antisemit-Vorwurf ja schließlich mit einer Gegenrede wehren, lässt zudem befürchten, dass das Gericht in Zukunft weiter verstärkt US-amerikanische Verhältnisse zugrunde legen wird, wo nach der sogenannten Counterspeech-Doctrine die Gegenrede das erste Mittel der Wahl ist, um gegen Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts vorzugehen. 

Der Vorwurf "Antisemit" zu sein, wiegt schwer. Einerseits ist es sicher richtig, hiervon nicht erst zu sprechen, wenn Gewalt und Hass im Spiel ist, da dies bereits dem wichtigen Credo "Wehret den Anfängen" zuwider läuft. Anderseits wird Antisemitismus verharmlost und der Begriff inflationär, wenn allzu leichtfertig der entsprechende Vorwurf formuliert wird. Deswegen bleibt es eine wichtige Aufgabe von Gerichten, unvertretbare Antisemitismusvorwürfe auch gerichtlich zu verbieten. Dass die damaligen Vorwürfe der Referentin gegen Xavier Naidoo nicht unvertretbar, sondern richtig waren, haben jedenfalls die weiteren Äußerungen Naidoos bewiesen. 

Das BVerfG hat die Entscheidung nun an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen. Dieses wird die neuen Äußerungen von Xavier Naidoo seit 2021 in der neuen Verhandlung berücksichtigen müssen, so dass abgesehen von der klaren Positionierung des BVerfG eine Klageabweisung sicher ist.

 

* Dieser Satz wurde einen Tag nach Erstveröffentlichung ergänzt.

Zitiervorschlag

BVerfG zur Äußerung über Naidoo - "Er ist Antisemit": . In: Legal Tribune Online, 22.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47029 (abgerufen am: 01.11.2024 )

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