Buchrezension "Sterben dürfen": "Frau Gloor, es ist doch Weih­nachten, da stirbt doch nie­mand!"

Dr. Stefan Rusche

11.06.2011

Töten oder Sterben lassen? In ihrem Buch schildern der Anwalt Wolfgang Putz und seine Mandantin Elke Gloor, wie sie zwischen strafrechtlichem Tötungsverbot, medizinrechtlichen Lebenserhaltungsgebot, freier Selbstbestimmung und dem Recht auf einen schmerzfreien Tod auf dem Weg durch die gerichtlichen Instanzen fast zerrieben werden. Von Stefan Rusche.

Elke Gloor möchte, dass ihre schwerkranke, komatöse Mutter sterben darf – so wie sie selbst es  gewollt hatte: "Keine künstliche Lebensverlängerung im Fall einer unumkehrbaren Bewusstlosigkeit!". Nach fünf Jahren ergebnisloser Auseinandersetzungen mit Ärzten und Pflegeleitern schneidet die Tochter auf Anraten ihres Anwalts den Schlauch durch, über den ihre bewusstlose Mutter ernährt wird.

Das Landgericht Mannheim verurteilt den Anwalt darauf wegen versuchten Totschlags zu neun Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung; eine vollendete Tötung schließt das Gericht aus, da der Tod laut Sachverständigem nicht mit letzter Sicherheit durch das Durchschneiden des schob bald erneuerten Schlauchs verursacht wurde. Gloor hingegen wird freigesprochen, weil sie sich Dank ihres Anwalts im schuldausschließenden Verbotsirrtum befand. Auch wenn sie falsch handelte - sie hätte es nicht besser wissen können, so das Gericht.

Der Vorwurf an den Anwalt: Die Tochter hätte wohl das Recht besessen, die künstliche Ernährung aufnötigende Pflegepersonal mit Gewalt von der Patientin fernzuhalten, nicht aber den Schlauch durchzuschneiden und sich so die Erlaubnis anzumaßen, zu töten.

Auf knapp 250 Seiten schildern Wolfgang Putz, der Anwalt, und Elke Gloor, die Tochter, was sich ereignete in den Jahren zwischen Oktober 2002, als die Mutter wegen einer Hirnblutung ins Wachkoma fiel und dem 21. Dezember 2007, als Elke Gloor den Schlauch auf Anraten ihres Anwalts durchschnitt. Der Fall ging durch die Tagespresse und beschäftigt nicht nur die Fachöffentlichkeit sondern auch die breite Bevölkerung.

Im juristischen und ethischen Nirwana

Das Betreuungsgericht segnet die Beendigung der künstlichen Ernährung ab, denn es steht fest, dass die Mutter schon zu Lebzeiten erklärt hatte, unter solchen Bedingungen nicht mehr weiter leben zu wollen. Der behandelnde Arzt schließt eine Besserung des Gesundheitszustandes aus und weist das Pflegeheim an, die Ernährung über die Schlauchsonde zu beenden: "Ab sofort ist die künstliche Ernährung ganz abzusetzen, die künstliche Hydration auf 250 ml/Tag herunterzusetzen und in den nächsten drei Tagen auf null zu reduzieren."

Alles machen Wolfgang Putz und Elke Gloor betreuungs- und medizinrechtlich richtig, doch alles hilft nichts: Das Pflegeheim verweigert sich dem humanen Sterben aus Furcht vor strafrechtlichen Komplikationen. Außerdem stünden christliche Feiertage bevor: "Frau Gloor, es ist doch Weihnachten, da stirbt doch niemand!"

Nach jahrelangem hin und her hat sich der Zustand der Mutter mehr und mehr verschlechtert. Sie ist auf 40 Kilogramm abgemagert, außerdem musste ihr ein Arm amputiert werden, der beim ständigen Umlagern ausgekugelt worden war.

Klärendes Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs

Wolfgang Putz und Elke Gloor schildern all dies so kenntnisreich und persönlich, wie es wohl nur Rechtsexperte und Mandantin gemeinsam können. Der Weg zum Bundesgerichtshof (BGH) ist lang, doch er bringt mit Urteil vom 25. Juni 2010 ( Az. 2 StR 454/09) den ersehnten Freispruch, der die Einheit der Rechtsordnung wieder herstellt: "Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (§ 1901a Bürgerliches Gesetzbuch) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen."

Neu und für eine an das Medizin- und Betreuungsrecht angepasste, zeitgemäße Strafrechtsdogmatik noch wichtiger ist der zweite Leitsatz des Urteils: "Der Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden." Seine bisherige, bei Behandlungsabbrüchen schon immer etwas willkürlich wirkende Differenzierung nach Tun oder Unterlassen hat der BGH damit ausdrücklich aufgegeben.

Das Urteil ist im Buch mit abgedruckt. Am Ende der Sitzung gibt es in Karlsruhe Applaus für die Beteiligten, denn das hart erkämpfte Urteil hat weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus Bedeutung. Ein außergewöhnliches Buch über einen außergewöhnlichen Fall.

Wolfgang Putz, Elke Gloor: "Sterben dürfen". Hamburg (Hoffmann und Campe) 2011, 256 Seiten, 18 Euro, ISBN: 978-3-455-50201-5. 

Dr. Stefan Rusche ist auf das Medizin- und Strafrecht spezialisierter Rechtsanwalt und Wissenschaftsjournalist.

 

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Zitiervorschlag

Buchrezension "Sterben dürfen": . In: Legal Tribune Online, 11.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3488 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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