2/2: Reine Sozialzuwanderung soll verhindert werden
Indem das BSG auf die Verfestigung des Aufenthalts, und speziell im Fall Alimanovic auf die Situation der schulpflichtigen Kinder und deren Integration in die Inlandsgesellschaft rekurriert, nimmt es das in den 2000er Jahren vom EuGH entwickelte Kriterium der "tatsächlichen Verbindung" auf. Ein sozialrechtlicher Teilhabeanspruch besteht danach in allen Fällen, in denen der Anspruchsteller eine tatsächliche Verbindung zu dem Staat hat, in dem er existenzsichernde Leistungen begehrt – beispielsweise wegen einer früheren Erwerbstätigkeit, dem Besuch einer Schule oder Hochschule. Der oft befürchteten "Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme" wird dadurch begegnet. Denn problematisch ist doch nicht die Frage, ob der Aufenthalt rechtmäßig ist oder nicht, sondern ob er in der Absicht begründet worden ist, Sozialleistungen zu beziehen, ob also die Wahl des Wohnsitzes allein bzw. maßgeblich durch die Sozialhilfeleistungen begründet war. Einen solchen Leistungsausschluss hält § 23 Abs. 3 SGB III bereit, setzt also die fraus-legis-Argumentation bereits um – freilich ergänzt um das strittige Ausschlusskriterium der Arbeitsuche.
Zwei weitere Verfahren, die am Donnerstag vom BSG entschieden wurden, hatten ähnliche Sachverhalte zum Gegenstand. Erfolg hatte die Klage einer rumänischen Staatsangehörigen, die sich bereits seit sieben Jahren in Deutschland aufhält. Sie hat zwar keinen Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende, aber auf Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII, da ihr Aufenthalt – ungeachtet ob rechtswidrig oder nicht – bereits verfestigt ist (B 4 AS 44/15 R). Der Fall eines arbeitsuchenden griechischen Staatsangehörigen wurde dagegen zur Klärung des Aufenthaltsrechts an die Vorinstanz zurück verwiesen (B 4 AS 59/13 R).
Vorbehalt gegen Fürsorgeabkommen rechtmäßig
In dieser Entscheidung hat das BSG den völkerrechtlich – im Recht des Europarats – vermittelten Zugang zu Sozialhilfeleistungen präzisiert. Die Vertragsstaaten haben sich bereits in den 1950er Jahren im Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) gegenseitig verpflichtet, den Angehörigen anderer Vertragsstaaten Fürsorgeleistungen zu gewähren, wenn sie bedürftig sind, und haben zudem die Ausweisung Bedürftiger ausgeschlossen. Zwar hat die Bundesregierung im Herbst 2011 einen Vorbehalt zum EFA erklärt und die Nichtanwendung des Abkommens für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erklärt. Die Rechtmäßigkeit dieses Vorbehalts, der in Literatur und Rechtsprechung umstritten ist, hat das BSG nun bestätigt, zugleich aber festgestellt, dass dieser auf das SGB II beschränkt und somit nicht geeignet ist, Angehörige der Vertragsstaaten vom Bezug der Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII auszuschließen.
Das Europarecht scheint in der Frage des Sozialleistungszugangs bedürftiger und/oder arbeitsuchender Unionsbürger seit den Urteilen in den Rechtssachen Brey, Dano und Alimanovic auf dem Rückzug. Es bildet jedoch nicht die einzige, sondern lediglich eine von vielen im Mehrebenensystem zu verortenden Rechtsquellen, die die Sozialleistungsträger von der Beachtung national- wie völkerrechtlicher Vorgaben nicht entbindet.
Die Autorin Prof. Dr. Constanze Janda ist Professorin für Sozialrecht, Europäisches Arbeitsrecht und Zivilrecht an der SRH Hochschule Heidelberg. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Migrationsrecht und setzt sich seit vielen Jahren mit den Rechtsfragen der sozialen Absicherung von Migranten auseinander.
BSG zu Sozialleistungen für EU-Bürger: . In: Legal Tribune Online, 04.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17761 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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