2/2: Was wären die Briten und die EU bereit zu akzeptieren?
Entscheidend für die weiteren Beziehungen ist letztlich die Frage, wie unbeschränkt der künftige Zugang des Vereinigten Königreichs zum EU-Binnenmarkt sein soll. Und inwieweit sind die beiden Parteien im Lichte des Austritts dazu bereit, die vier im AEUV manifestierten Grundprinzipien des freien Personen-, Dienstleistungs-, Kapital- und Warenverkehrs zu akzeptieren?
Die Antwort auf diese Kernfrage hängt sicherlich von einer Vielzahl wirtschaftlicher und juristischer Konsequenzen ab. Wäre das Vereinigte Königreich nach erfolgtem Austritt juristisch als Drittland zu qualifizieren, wäre einem der größten Finanzplätze der Welt der Marktzugang für sämtliche Finanzdienstleistungen innerhalb der EU erheblich erschwert, im äußerstem Fall versperrt.
Der Finanzmarkt basiert mittlerweile faktisch auf dem Europäischen Pass, einem System zum erleichterten Zugang von Banken, Finanzdienstleistern, Versicherungsgesellschaften und Investmentfondsmanagern zu anderen EU-Märkten. Im schlechtesten Fall des Ausgangs der Verhandlungen fällt diese Variante, von der vor allem das Vereinigte Königreich profitierte, vollständig weg. Das zurzeit vor allem aus London getriebene Europageschäft vieler internationaler Wertpapier- und Finanzdienstleister müsste in diesem Fall vollständig umstrukturiert werden.
Finanzbranche: für Jahre mit den Folgen beschäftigt
Statt einer Zweigniederlassung oder sogar des Vertriebs ohne dauerhafte Präsenz in einem EU-Mitgliedstaat wäre es erforderlich, eine entsprechende Erlaubnis zumindest in einem der verbliebenen EU-Länder zu beantragen. Schon dieser Vorgang dürfte zu ganz erheblichen Verwerfungen und Veränderungen des Marktes führen.
Auch in der verbleibenden EU ansässige Unternehmen, die im Vereinigten Königreich tätig bleiben wollen, müssten neue Tochterunternehmen errichten, um den dortigen Anforderungen nachzukommen. Banken müssten dann z.B. ganz neue Maßnahmen der Kapitalallokation einleiten. Die Gefahr der Austrocknung bestimmter Märkte ist dabei nicht ausgeschlossen. In jedem Fall sind also massive Folgen zu erwarten, welche die gesamte Finanzbranche in den kommenden Jahren beschäftigen werden.
Der Finanzplatz Frankfurt am Main könnte von diesem Umstand profitieren, sicher ist das jedoch keineswegs. Auch dieser Aspekt hängt letztlich von den Verhandlungsergebnissen und der Entscheidung der Unternehmungen ab, wo sie sich neu ansiedeln werden. Hier werden ganz sicher Luxemburg und Irland maßgeblich profitieren.
Das Europäische Patentgericht und der internationale Rechtsmarkt
Darüber hinaus ist nicht nur die Finanzbranche vom Austritt des Vereinigten Königreichs betroffen. Als beispielhaft für die weiteren wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen dient hier der Probestart des Europäischen Patentgerichts (UPC). Das UPC und das zeitgleich in Kraft tretende EU-Patent sollen die nationalen Regelungen vereinheitlichen und einen einmalig anzumeldenden EU-weiten Patentschutz garantieren.
Damit das UPC in Kraft treten kann, müssen jedoch mindestens 13 der 25 teilnehmenden Länder dem Projekt zustimmen. Zudem müssen die drei Länder mit den höchsten Patent-Anmeldezahlen - Deutschland, Frankreich und Großbritannien – zwingend zustimmen. Der Europäische Gerichtshof hat jedoch 2010 festgestellt, dass nur Unionsmitglieder am UPC teilnehmen dürfen. Sollte Großbritannien das Übereinkommen zum UPC nun überhaupt ratifizieren, muss möglicherweise im Anschluss wieder über einen Austritt und die Umgestaltung des Übereinkommens verhandelt werden.
Auch für den Rechtsmarkt ist absehbar, dass sich in den nächsten Jahren einiges verändern wird. Viele der Großkanzleien haben ihren Ursprung in dem Vereinigten Königreich. Bei den zu erwartenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie angesichts der sehr wahrscheinlichen Abwertung des Pfund stellt sich die Frage, ob die Vergütungsmodelle der Kanzleien in der Zukunft tatsächlich beibehalten werden können. Massive Veränderungen sind also auch hier geradezu sicher.
All das sind nur einzelne Beispiele. Sie zeigen, dass wir von Rechtssicherheit weit entfernt sind. Turbulente, wenn nicht dramatische Monate und Jahre liegen vor uns. Die Europäische Union und das Vereinigte Königreich müssen ihre künftigen Beziehungen in zahlreichen Bereichen neu definieren.
Der Autor Jochen Kindermann ist Partner bei Simmons & Simmons in Frankfurt. Er ist Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht.
Brexit: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19780 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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