Elektronische Leseplätze in Bibliotheken gibt es schon seit Längerem. Unklar war aber bisher, welche Werke dort angeboten werden dürfen und ob Besuchern erlaubt werden darf, diese auch auszudrucken oder auf USB-Sticks zu kopieren. Alle drei Fragen hat der BGH am Donnerstag im Sinne der Bibliotheken beantwortet. Die Hintergründe erklärt André Niedostadek.
Bibliotheken sind Geschmackssache: Die einen könnten dort den ganzen Tag sitzen und schmökern, die anderen leihen nur schnell aus, was sie benötigen, und sind sogleich wieder zur Tür hinaus. Vor allem für diese zweite Gruppe dürfte das Urteil des BGH (v. 16.04.2015, Az. I ZR 69/11) hocherfreulich sein: Sie werden künftig auf dem Heimweg nicht mehr schwer zu schleppen haben, und auch die Gebühren wegen verspäteter Rückgabe dürften sich in vielen Fällen erübrigen.
Kurz zur Erinnerung: Hintergrund ist ein Rechtsstreit zwischen der Technischen Universität (TU) Darmstadt und dem Verlag Eugen Ulmer. Die als innovativ geltende TU hatte schon früh in ihrer öffentlich zugänglichen Bibliothek elektronische Leseplätze eingerichtet und als zusätzlichen Service Werke aus dem Bibliotheksbestand in digitaler Form bereitgestellt – darunter auch eine im Verlag der Klägerin publizierte "Einführung in die neuere Geschichte". Den Bibliotheksnutzern dürfte diese Praxis nur recht gewesen sein. Sie konnten die Bücher so nicht nur lesen, sondern auch beliebige Seiten ausdrucken oder auf einem USB-Stick abspeichern.
Der klagende Verlag war darüber weniger erfreut. Er nahm die TU deshalb auf Unterlassung in Anspruch. Zumal er ihr zuvor angeboten hatte, die Werke auch als E-Books zu erwerben – worauf diese aber verzichtet hatte. Die Universität sah dafür auch keinen Anlass: Sie berief sich auf § 52b des Urheberrechtsgesetzes (UrhG). Der erlaubt es nämlich, Werke aus dem Bibliotheksbestand vor Ort an eigens dafür eingerichteten elektronischen Leseplätzen zur Forschung und für private Studien zugänglich zu machen; das gilt jedenfalls, soweit dem keine vertraglichen Regelungen entgegenstehen.
Mit dieser im Rahmen der Urheberrechtsreform 2008 neu eigefügten Vorschrift hatte der Gesetzgeber eine Möglichkeit gesehen, die Kompetenz der Bevölkerung im Umgang mit Medien zu fördern. Zugleich setzte er damit Rahmenbedingungen der europäischen Urheberrechtsrichtlinie von 2001 um. Der seinerzeit geschaffene § 52b UrhG war allerdings schon seit jeher umstritten. Vor allem deshalb, weil nicht so recht klar war, wo die Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen lagen.
Auf dem Sprung zum BGH
Als sich vor gut vier Jahren erstmals das Landgericht (LG) Frankfurt dazu äußerte, billigte es zwar die kostenlose Benutzung elektronischer Leseplätze. Der Praxis, urheberrechtlich geschützte Inhalte auszudrucken oder auf USB-Sticks abzuspeichern, schob man jedoch einen Riegel vor. Dass mit dieser Entscheidung nicht das letzte Wort gesprochen sein würde, lag auf der Hand. Auch die Beteiligten selbst wollten die streitigen Fragen zügig und grundsätzlich klären lassen. Sie beantragten deshalb die Sprungrevision zum Bundesgerichtshof (BGH).
Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat setzte das Verfahren im Herbst 2012 dann aber zunächst einmal aus. Um § 52b UrhG richtlinienkonform auslegen zu können, legten die Karlsruher Richter dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) drei Fragen zur Vorabentscheidung vor: Wie steht es erstens um § 52b UrhG, wenn der Rechteinhaber selbst digitalisierte Werke vertreibt und der Bibliothek deren Nutzung zu angemessenen Lizenzbedingungen anbietet? Ist es zweitens gestattet, sämtliche Druckwerke einer Bibliothek zu digitalisieren und zugänglich zu machen? Und dürfen drittens die digitalisierten Werke von den Lesern wiederum am Terminal auf USB-Sticks abgespeichert oder ausgedruckt und mitgenommen werden?
Luxemburg billigt Mitgliedstaaten viel Spielraum zu
Im September vergangenen Jahres skizzierten die Luxemburger Richter dann die Marschrichtung: Mitgliedstaaten, so der EuGH, können tatsächlich Regelungen treffen, die es Bibliotheken gestatten, bestimmte Bücher aus ihrem Bestand zu digitalisieren und an elektronischen Leseplätzen bereitzustellen. Und das selbst ohne Zustimmung der Rechteinhaber. Dieser Teil der Entscheidung hatte sich schon im Vorfeld abgezeichnet. Den eigentlichen Paukenschlag schoben die Richter noch nach: Zulässig sei es auch, wenn Mitgliedstaaten den Nutzern gestatten, von der Bibliothek digitalisierte Bücher auf Papier auszudrucken oder auf einem USB-Stick zu speichern. Das aber innerhalb bestimmter Grenzen und unter bestimmten Voraussetzungen, wie der Zahlung eines gerechten Ausgleichs an die Rechtsinhaber. Die Sache mit dem Abspeichern hatte der Generalanwalt* im Vorfeld durchaus kritischer gesehen.
Spannend war deshalb, wie sich der BGH zu alledem positionieren würde. Unter welchen Voraussetzungen würde er das Zugänglichmachen elektronischer Bücher an Leseplätzen auch ohne Einwilligung des Rechtsinhabers als konform ansehen? Aber vor allem: Dürfen digitalisierte Werke in Bibliotheken auch ausgedruckt und abgespeichert werden? Das UrhG selbst ist ja bezüglich solcher sogenannten "Anschlussvervielfältigungen" alles andere als klar.
Lesen ist out – Multitasking ist in
Um es kurz zu machen: Bibliotheken und ihre Nutzer haben in dieser letzten Runde gewonnen – und das nicht nur nach Punkten, sondern durch K.o. Der BGH hat die Klage des Verlags insgesamt abgewiesen. Wie der Pressemitteilung zu entnehmen ist, sind Bibliotheken erstens berechtigt, ihren Bestand zu digitalisieren und an elektronischen Leseplätzen zugänglich zu machen. Das findet zwar im Urheberrechtsgesetz* direkt keine Grundlage. Allerdings sei es ein akzessorisches Recht, für das § 52 a Abs. 3 UrhG entsprechend anwendbar sein soll; der gestattet eine Vervielfältigung für Unterricht und Forschung. Zweitens dürfen Nutzer die Werke auch zum privaten oder sonstigen eigenen Gebrauch ausdrucken oder abspeichern. Und drittens, soweit § 52b Urhebergesetz normiert, dass vertragliche Regelungen dem entgegenstehen können, müssen entsprechende Verträge auch existieren. Ein bloßes Angebot zum Abschluss eines Vertrages genüge dafür nicht.
Die sehr weit gehende Entscheidung wird Verlage und Autoren im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen Interessen kaum erfreuen. Und wer § 52b UrhG in der Vergangenheit bereits abgeschrieben hatte – das dürfte mit dem gestrigen Urteil sicher hinfällig sein. A propos abgeschrieben: Bibliotheksnutzer brauchen also künftig nicht wie mittelalterliche Kopisten relevante Inhalte sorgsam per Hand auf Papier zu übertragen. Die neue Devise könnte demnach lauten: Liest Du noch oder speicherst Du schon?
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M. lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz in Halberstadt. Folgen Sie dem Autor auf Twitter unter @niedostadek.
* Anm. d. Red.: Hier stand zunächst "Generalstaatsanwalt" bzw. "Urhebergesetz". Geändert am 18.04.2015, 11:12.
André Niedostadek, Elektronische Leseplätze: . In: Legal Tribune Online, 17.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15268 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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