Soll ein Ex-Soldat der afghanischen Armee, der Kriegsverbrechen begangen haben soll, in Deutschland vor Strafverfolgung geschützt sein? Darüber muss der BGH entscheiden - und damit auch über die Zukunft des Völkerstrafrechts in Deutschland.
Am Donnerstag geht es vor dem Bundesgerichtshof (BGH) – man muss es so sagen – um die Zukunft des Völkerstrafrechts in Deutschland. Der BGH wird in einem Verfahren entscheiden, das auf den ersten Blick rechtlich kein besonders spektakulärer Fall ist (Az. 8 St 5/19). Ein ehemaliger Oberleutnant der afghanischen Armee soll in Afghanistan Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafrechtsgesetzbuch (VStGB) begangen haben. Die Bundesanwaltschaft hat den Mann im Herbst 2018 in der Nähe von München festgenommen. Die Vorinstanz das OLG München verurteilte ihn zu zwei Jahren Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung.
Vergangene Woche kündigte der BGH an, dass der Fall zu einer Grundsatzentscheidung führen wird. Im Kern wird es um die Frage gehen: Können ausländische Armeeangehörige für Kriegsverbrechen überhaupt vor deutschen Gerichten verurteilt werden -oder sind sie durch Immunität vor Strafverfolgung geschützt? Eine Frage, die in der ersten Instanz vor dem OLG nach Informationen von LTO überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Ebenso wenig bei dem Haftbefehl gegen den afghanischen Soldaten, den ein Ermittlungsrichter beim BGH erlassen hatte.
Sollte sich die Immunität auch auf staatliche Funktionsträger erstrecken, wären die Folgen für die Strafverfolgung in Deutschland sofort spürbar. In dem weltweit ersten Prozess gegen Angehörige des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem OLG Koblenz stehen seit April 2020 zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter vor Gericht – auch in diesem Fall müsste dann aus Immunitätsgründen über ein Ende der Strafverfolgung zu sprechen sein.
Warum geht es plötzlich um die Immunitätsfrage?
Das völkerrechtliche Immunitätsprinzip entspringt dem Gedanken, dass nicht die Justiz eines Staates über Angelegenheiten eines anderen Staates entscheiden soll. Allerdings stößt es an Grenzen, wenn die Handlungen von staatlichen Funktionsträgern wie Polizisten, Soldaten oder Geheimdienstlern gegen Vorschriften des internationalen Völkerstrafrechts verstoßen. Beim Verstoß gegen Völkerstrafrecht endet die Immunität, so die verbreitete Auffassung. Heikel bleibt allerdings: Diese Regeln sind nicht kodifiziert, sie bleiben Völkergewohnheitsrecht, bewegen sich also im Bereich des gegenseitigen ungeschriebenen Anerkennens und Praktizierens. So schien es bislang auch unter den Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtrechtlern mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit zu sein, in den Völkerstrafrechtsverfahren war diese Frage der Rede nicht wert.
Den Fall, den der BGH nun am Mittwoch entscheidet, ist gar nicht der erste deutsche Fall, bei dem die Frage nach der Immunität von Kriegsverbrechern hätte auftauchen müssen: Als beispielsweise 2015 ein Ex-Bürgermeister aus Ruanda wegen Völkermordes vom OLG Frankfurt am Main verurteilt wurde, hätte das schon Thema sein können. Das Verfahren beschäftigte zwischenzeitlich sogar den BGH, der genau diese Frage nun aufwirft – doch um Immunitätsfragen zugunsten des Ex-Bürgermeisters ging es damals nirgendwo.
Sollte es wirklich so weit kommen, dass der BGH nun über die Immunität die Strafverfolgung ausländischer Staatsfunktionsträger ausschließen würde, könnte das Völkerstrafrecht in Deutschland nur noch der Verfolgung von Terroristen und "Rebellen" dienen.
Auch bei den zuständigen Strafverfolgern der Bundesanwaltschaft hat man nach Informationen von LTO eher überrascht zur Kenntnis genommen, dass der BGH sich einmal grundsätzlich mit der Frage befassen will. Dafür hatte der 3. Senat nach einer ersten mündlichen Verhandlung zu den Vorwürfen extra noch einen zweiten Termin anberaumt, um mit den Verfahrensbeteiligten über die Immunität zu sprechen.
Auch die Verteidigung ist von der Wende überrascht
Eine zentrale Frage in dem Prozess war bis dahin eigentlich gewesen: Hat der junge Soldat die Gefangengen gefoltert oder nicht? Reichen die Tathandlungen in Afghanistan dafür aus oder handelte es sich um Körperverletzungen nach dem Strafgesetzbuch (StGB)?
Das OLG München hat den damals 27-jährigen Angeklagten Mitte 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wegen gefährlicher Körperverletzung, Nötigung und versuchter Nötigung. Die Richterinnen und Richter sahen es als erwiesen an, dass der Angeklagte Ende 2013 bzw. Anfang 2014 als Offizier der afghanischen Nationalarmee auf dem Gelände einer Militärkaserne im Südosten Afghanistans an einem Verhör von drei gefangenen Kämpfern der Taliban beteiligt war. Gemeinsam mit einem weiteren Soldaten soll er die Gefangenen geschlagen haben. Darüber hinaus soll der der Angeklagte nach den Feststellungen des Gerichts den drei Gefangenen gedroht haben, sie an Strom anzuschließen, falls sie nicht kooperierten.
Allerdings folgten die OLG-Richterinnen und -Richter den Einschätzungen der Bundesanwaltschaft nicht, soweit diese eine Verurteilung wegen eines Folterverbrechens nach dem VStGB gefordert hatte. Der Senat sah es schließlich auch als erwiesen an, dass der Angeklagte im Jahr 2014 in der afghanischen Provinz Paktia den Leichnam eines Talibankommandeurs an einem Schutzwall aufhängen ließ. Bei der Strafzumessung wertete der Senat unter anderem zugunsten des Angeklagten sein Geständnis, sein kooperatives Verhalten gegenüber den Polizeibehörden, sein strafloses Vorleben, den Umstand, dass die Taten lange zurückliegen, und dass er damals gerade erst 21 Jahre alt war. Das OLG setzte die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, nachdem der Angeklagte erhebliche Anstrengungen unternommen hatte, um sich in Deutschland zu integrieren, wie es in der Pressemittelung des OLG zu der Entscheidung heißt.
"Es handelt sich nicht um einen Fall für das Völkerstrafrecht", sagte Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg zu LTO. Der Rechtsanwalt und ehemalige OLG-Richter vertritt den angeklagten Afghanen in dem Prozess. "Die Bundesanwaltschaft sollte besser ihre begrenzten Kapazitäten für die wirklich gravierenden Völkerstraftaten einsetzen."
Heintschel-Heinegg zeigt sich selbst überrascht davon, dass der BGH nun die Immunitätsfrage aufgeworfen hat. Sie bringt den ehemaligen Honorarprofessor der Uni Regensburg in Verlegenheit, er hatte selbst zum Völkerstrafrecht geforscht und veröffentlicht. "Ich bin selbst ein glühender Verfechter des Völkerstrafrechts und betrachte mit Sorge die Tendenzen, die nach Inkrafttreten des Rom-Statuts in neuerer Zeit wieder auf einen Bedeutungsverlust hindeuten", so Heintschel-Heinegg.
Über die Hintergründe, warum der BGH sich plötzlich grundsätzlich mit der Immunitätsfrage beschäftigen möchte, kann man nur spekulieren. Eine Spur führt auf die Ebene der internationalen Politik: So ist auf Ebene der Vereinten Nationen schon seit längerem eine Diskussion in Gang gekommen, ob die Existenz einer völkergewohnheitsrechtlichen Ausnahme von der Immunität für Völkerrechtsverbrechen nicht doch in Zweifel gezogen werden muss. Staaten wie Russland, die von dieser Ausnahme nicht viel halten, trieben die Diskussion in diese Richtung.
Strafrechtlerin: "Die völkerstrafrechtliche Welt hält gerade den Atem an"
Zum BGH war das Strafverfahren gekommen, weil sowohl der Angeklagte als auch die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt hatten. Sollte der BGH entscheiden, dass es sich bei den Tathandlungen nicht um Folter handelt, könnte er die Frage klären, ob ausländische staatliche Akteure durch Immunität jedenfalls vor Bestrafung nach nationalem Strafrecht geschützt sein könnten -und in einem obiter dictum dann auch gleich klären, wo die Immunität Grenzen bei Verstößen gegen das VStGB findet.
"Die völkerstrafrechtliche Welt hält, so scheint es mir, gerade den Atem an", sagt Prof. Dr. Stefanie Bock, Strafrechtlerin an der Uni Marburg. Sie forscht zu Völkerstrafrechtsprozessen in Deutschland. "Wenn man hoffnungsvoll der BGH-Entscheidung entgegenblicken will, bleibt zu erwarten, dass der BGH diesen Fall nutzt, um ein klares Zeichen zu setzen und die Immunitätsfrage grundsätzlich zugunsten der Nichtanwendung auf staatliche Funktionsträger zu klären", so Bock. "Damit könnte er für Rechtssicherheit sorgen und sicherstellen, dass auch weiterhin eine effektive Verfolgung von völkerrechtlichen Verbrechen in Deutschland möglich ist."
"Völkerrechtlich ist eindeutig, dass sich ausländische Funktionsträger nicht auf funktionelle Immunität berufen können, wenn sie schwerste Menschheitsverbrechen begangen haben", sagt Antonia Klein, Völkerstrafrechtlerin bei der Berliner NGO ECCHR. "Jede gegenläufige Entscheidung des BGH würde gegen etabliertes Völkerrecht verstoßen und liefe Strafverfolgungspflichten aus völkerrechtlichen Verträgen wie der Antifolterkonvention entgegen." Sie befürchtet, dass weitreichende Straflosigkeit drohen würde.
Wird der BGH dem BVerfG vorlegen?
Der BGH hat in seiner Vorankündigung zur Urteilsverkündung auch gleich den Hinweis aufgenommen, dass der Senat erwäge die Frage dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorzulegen. Und zwar nach Art. 100 Abs. 2 Grundgesetz. Wenn ein Gericht Zweifel hat, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie nach Art. 25 GG unmittelbar Rechtswirkungen entfaltet, so muss das Gericht dem BVerfG vorlegen. Konkret könnte es darum gehen, ob eine völkergewohnheitsrechtliche Ausnahme von der Immunität für Kriegsverbrechen auch im deutschen Recht eine Verankerung gefunden hat.
Die Entscheidung zur Vorlage wäre eine Entscheidung, die dann erst einmal so schnell keine Rechtssicherheit schaffen würde und stattdessen laufende Völkerstrafrechtsprozesse auf Eis legen könnte.
BGH-Grundsatzentscheidung steht an: . In: Legal Tribune Online, 27.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44101 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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