Der BGH hat die Entscheidung der Berliner Strafkammer regelrecht zerpflückt. Und das vollkommen zu Recht, meint Tonio Walter. Herkunft und Gesinnung eines Täters müssten für die Vorsatzfrage außen vor bleiben.
Eine Mutter rast im Auto Richtung Krankenhaus, wo ihr schwerverletztes Kind mit dem Tode ringt. Sie überfährt zwei rote Ampeln. An der ersten geht das gut; an der zweiten rammt sie einen anderen Wagen. Beide Autos überschlagen sich, krachen gegen Ampeln und Beton und bleiben als Schrottklumpen liegen. Der Fahrer des anderen Wagens stirbt. Die Mutter kommt dank Airbags und viel Glück unverletzt davon. Sie hat gewusst, dass so etwas passieren konnte. Theoretisch. Aber sie hat diese Möglichkeit verdrängt, hat gehofft, dass es nicht dazu kommen und sie in der Lage sein werde, anderen auszuweichen – mit dem Bild ihres Kindes vor Augen, Adrenalin im Blut und einem Puls von 180. Ist sie eine Mörderin?
Nein, absurder Gedanke! So möchte man antworten. Und wahrscheinlich hätte auch jedes deutsche Gericht so geantwortet und die Frau allein wegen einer Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Tötung verurteilt. Dafür hätte es sich auf den Bundesgerichtshof (BGH) berufen können. Denn der wiederholt immer wieder, man dürfe nie allein aus der Gefährlichkeit eines Verhaltens, wie groß sie auch sei, auf einen bedingten Tötungsvorsatz schließen (u.a. BGH, Bschl. v. 25. 8. 1982, Az. 2 StR 321/82 ). Vielmehr habe man stets gesondert festzustellen, dass sich der Täter mit dem Tod des Opfers abgefunden und nicht auf einen guten Ausgang vertraut habe. Auch das Gesetz erlaubt es, einen Tötungsvorsatz der Mutter zu verneinen. Denn für die Frage, ob jemand Vorsatz hat, interessiert es sich ausschließlich dafür, was sich diese Person vorstellt; nicht dafür, wie abwegig es sein mag, so zu denken.
BGH erinnert an Grundlagen des Vorsatzes
Zu einem anderen Ergebnis führt das Rechtsgefühl viele - auch Juristen - indes, wenn die Mutter nicht auf dem Weg zu ihrem Kind ist, sondern ein moralisch minderwertiges Motiv fürs Rasen hat – zum Beispiel nach einem Raub mit der Beute zu fliehen. Noch finsterer wird das Bild, wenn sie zeitgleich zu einem Mann mutiert. Und wenn der dann noch einen Migrationshintergrund hat und zu einer Raser-Szene gehört, die Angst und Schrecken verbreitet, ist vieles von dem beisammen, was Volkes Stimme nach der Höchststrafe schreien lässt: Raser sind Mörder! Das BGH-Urteil zum Berliner Raser-Fall erinnert uns daran, dass es für die Frage des Vorsatzes nicht auf das Geschlecht, die Herkunft oder die moralische Integrität eines Angeklagten ankommt (Urt. v. 01.03.2018, Az. 4 StR 399/17).
Mit dem Judikat der Vorinstanz macht der BGH kurzen Prozess: Erstens sei es falsch, rund ein dutzend Mal zu betonen, dass die Tathandlung das Befahren der Unfallkreuzung gewesen sei, und den beiden Angeklagten erst für diesen Augenblick Tötungsvorsatz zu attestieren – und zugleich festzustellen, dass es da aber keine Chance mehr gegeben habe, den Unfall zu vermeiden. Stimmt: Man muss den Vorsatz stets für einen Zeitpunkt feststellen, in dem sich der Täter noch entscheiden kann, das Opfer leben zu lassen. Das wäre hier deutlich vor dem Erreichen der Unfallkreuzung gewesen. Dass dieser "vorgelagerte Rennbereich" (O-Ton der Strafkammer) nicht mehr zur angeklagten Tat im prozessualen Sinne gehört hätte, wie die Strafkammer meinte, hat der BGH zu Recht in einem kurzen Satz als falsch verworfen. Denn zu dieser Tat gehörte offensichtlich das gesamte Renngeschehen.
Zweitens – und das ist der wichtigste Teil des Urteils – verwirft der BGH die Beweiswürdigung der Strafkammer. Sie habe die Selbstgefährdung der Angeklagten denkfehlerhaft erörtert. Und das hat sie allerdings. Dass die Angeklagten in einem Unfall auch selbst zu Schaden kommen konnten, ist etwas, das gegen ihren Tötungsvorsatz spricht. Denn wer nimmt etwas billigend in Kauf, was ihn selbst verletzt?
Natürlich könnte es auch Raser geben, die das tun; etwa Lebensmüde oder religiöse Eiferer. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Aber das wäre eine Ausnahme, die ein Gericht fallbezogen darzulegen hätte. Das konnte die Strafkammer nicht. Stattdessen berief sie sich darauf, dass sich Fahrer von Autos, wie sie die Angeklagten fuhren – ein Mercedes und ein Audi mit viel PS –, stets sicher fühlten und alle Risiken für sich selbst verdrängten. Einen Erfahrungssatz dieses Inhalts gibt es aber nicht, wie der BGH zutreffend anmerkt und zahlreiche Audi und Mercedes-Fahrer bestätigen werden. Und die wenigsten von ihnen dürften sich "wie in einem Panzer oder in einer Burg", so die Strafkammer, fühlen, wenn sie mit 160 bis 170 Sachen bei Rot über eine Kreuzung in Berlin Mitte jagen müssten.
Gemeinschaftliche Sorgfaltspflichtverletzung ist kein Vorsatzdelikt
Noch schräger als die Burg-und-Panzer-These der Strafkammer war allerdings, dass sie beiden Angeklagten zugleich Verletzungsvorsatz hinsichtlich der Beifahrerin zuschrieb, die einer der beiden an Bord gehabt hatte – und die tatsächlich verletzt worden war und zwei Tage im Krankenhaus behandelt werden musste. Denn wie sollte ihr Fahrer sich selbst so sicher wähnen wie in einer Burg, es aber für gut möglich halten, dass die Dinge dreißig Zentimeter rechts von ihm ganz anders lagen? Zwar mag es Gehirne geben, die selbst solchen Blödsinn denken. Doch bot der Sachverhalt dafür nicht den geringsten Anhalt, und die Strafkammer hat auch keinen Versuch gemacht, ihn zu finden; sie hat die Widersprüchlichkeit ihrer Ausführungen gar nicht bemerkt. Auch nicht mit Blick auf eine Beschädigung der Tatfahrzeuge: Deren Möglichkeit, so die Strafkammer, hätten die Angeklagten im Adrenalinrausch "ausgeblendet" – aber zugleich den Vorsatz gehabt, dass herumfliegende Trümmerteile ihrer (gänzlich unbeschädigten) Fahrzeuge Passanten treffen…
Elisa Hoven hat eingewandt, es lasse die Möglichkeit eines Tötungsvorsatzes unberührt, wenn die Angeklagten glaubten, selbst unverletzt zu bleiben. Denn sie seien Mittäter, ihnen werde ihr Handeln wechselseitig zugerechnet. Dann reiche es doch, wenn sie es in Kauf genommen hätten, dass der jeweils andere einen Unfall verursache. Aber das hat der BGH zu Recht zurückgewiesen: Mittäterschaft bedingt beim Mord den Tatentschluss, gemeinschaftlich zu töten. Es reicht nicht, wenn zwei verabreden, etwas Gefährliches zu tun – was dann ungewollt den Tod eines Dritten verursacht. Eine gemeinschaftliche Sorgfaltspflichtverletzung ist noch kein gemeinsames Vorsatzdelikt.
Wohl kann ein gemeinsamer Tatplan auch in Form bedingten Vorsatzes vorliegen. Aber der muss sich dann genauso auf den Taterfolg beziehen wie auf die Tathandlung. Und einen Erfolgsvorsatz hatte die Strafkammer nun einmal erst für den Moment festgestellt, in dem die Angeklagten auf die Unfallkreuzung fuhren. Da war es auch für einen gemeinsamen Tatplan zu spät. Nebenbei: Wenn man für den Vorsatz die Mittäterschaft braucht – was heißt das für Solo-Raser? Und für Fälle, in denen sich ein gemeinsamer Tötungstatentschluss nicht nachweisen lässt?
Vorsatz ist stets eine Tatfrage
Die jetzt zu einer neuen Entscheidung berufene Strafkammer wird das Vorsatzexperiment hoffentlich nicht fortsetzen. Dieses Experiment war ein rechtspolitisch begreiflicher Aufschrei. Der indes hat mit dem neuen § 315d Strafgesetzbuch (StGB) Erfolg gehabt, mit dem die Veranstaltung von und die Teilnahme an verbotenen Straßenrennen als weiterer Tatbestand eingeführt wurde. Diese Norm verlangt keinen Tötungsvorsatz.
Versuchte man jetzt dennoch mit aller Gewalt, ihn festzustellen, würde der neue Tatbestand entwertet. Denn neben Mord und Totschlag nach §§ 211, 212 StGB spielte er stets nur eine untergeordnete Rolle. Außerdem käme man unweigerlich in ein Versuchsdilemma: Wenn Raser bei einem Unfall Tötungsvorsatz haben, dann haben sie Tötungstatentschluss, wenn die Fahrt glimpflich verläuft; denn ein Versuch ist unstreitig auch mit Eventualvorsatz möglich.
Es gibt zwar immer wieder Bemühungen, das wegzudiskutieren – auch seitens der Strafkammer im Berliner Fall. Indes ohne Erfolg. Und sollen jetzt wirklich alle Raser zunächst einmal wegen Mordversuchs strafverfolgt werden? Lieber nicht. Natürlich ist der Vorsatz stets eine Tatfrage; er kann nie für bestimmte Handlungen kategorisch bejaht oder verneint werden. Aber es gibt typische und atypische Fälle, und ein typischer Raser hat selbst bei größtem Leichtsinn keinen Tötungsvorsatz. Folglich sind wohl fünf Jahre Gefängnis das Höchstmaß der Strafe, die im Berliner Fall verhängt werden kann. Die Rücksichtlosigkeit der Täter und die Tatfolgen sprechen dafür, auch zu diesem Höchstmaß zu greifen.
Der Autor Prof. Dr. Tonio Walter ist Richter am Oberlandesgericht und hat den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht an der Universität Regensburg inne.
Der BGH und das Raser-Urteil des LG Berlin: . In: Legal Tribune Online, 14.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27531 (abgerufen am: 19.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag