Bundesfinanzministerium erscheint nicht zur Verhandlung: Keiner ver­tei­digt den Soli

von Dr. Felix W. Zimmermann

17.01.2023

Der Prozess vor dem Bundesfinanzhof über die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags geriet zu einer überaus einseitigen Veranstaltung. Befürworter der Abgabe waren nicht zu hören, dafür sorgte Bundesfinanzminister Lindner.

"Etikettenschwindel", "ewige Abgabe", "Resterampe", "begründungslose Blankettabgabe": Prof. Dr. Roman Seer war in seinem Plädoyer sichtlich um medial einprägsame Negativtitulierungen des Solidaritätszuschlags (kurz: Soli) bemüht. Der Direktor des Instituts für Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum gehört zum Team von Rechtsvertretern, das ein Ehepaar aus Hessen mit Unterstützung des Bundes der Steuerzahler vor dem Bundesfinanzhof (BFH) vertritt (Az. IX R 15/20).

Die Grundfrage: Ist der Solidaritätszuschlag über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch verfassungsgemäß? Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage ist Art. 106 des Grundgesetzes (GG), der die verschiedenen Steuerarten regelt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen die in dieser Norm genannten Steuertypen voneinander abgrenzbar sein.

Bundesländer dürfen nicht umgangen werden

Das ist kein bloßer Formalismus, sondern es geht um Kompetenzfragen im Föderalismus. Nach Art. 106 Abs. 3 GG stehen nämlich Bund und Ländern die Einnahmen aus Einkommens- und Körperschaftsteuer gemeinsam zu. Entsprechend muss der Bundesrat auch bei Änderungen dieser Steuern zustimmen. Anders sieht bei der in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG erwähnten "Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer aus." Die Einnahmen stehen nur dem Bund zu, die Länder müssen derartige Abgaben nicht über den Bundesrat absegnen.

Daher darf der Bund nicht einfach zur Umgehung von Zustimmungspflichten eine Abgabe erheben, die nur dem Namen nach "Ergänzungsabgabe", eigentlich aber kategorisch Einkommensteuer ist und die ihm dann auch noch allein zugutekommt. Das ist es, was Prof. Seer in der heutigen Verhandlung "Etikettenschwindel" nennt.

Eine Ergänzungsabgabe unterscheidet sich von der Einkommensteuer durch ihren besonderen Zweck. Im Falle des Solidaritätszuschlags als Ergänzungsabgabe ist dies seit 1995 allein, die besonderen Lasten der deutschen Einheit abzufedern. Für Prof. Seer ist jedoch dieser Zweck inzwischen entfallen. Das zeige sich schon daran, dass der Solidarpakt II bereits Ende 2019 ausgelaufen sei.

Unzulässige "Resterampe"?

Auch eine Umwidmung des Soli für besondere Finanzierungsbedürfnisse wegen der Corona-Krise oder dem Ukraine-Krieg komme nicht in Betracht, schon weil es keinen dahingehenden Gesetzesbeschluss gebe, so der Finanzrechtler. Zudem dürfe die Ergänzungsabgabe im Grundgesetz auch keine "Resterampe" sein, die mit beliebig verschiedenen Finanzierungsbedarfen des Bundes beladen werden könne. So eine begründungslose Blankettabgabe für jeden denkbaren imaginären Finanzierungszweck oder eine allgemeine Deckungslücke im Haushalt ist laut Seer verfassungswidrig.

Zudem würden nicht etwas 10 Prozent, sondern nur 5 Prozent der Bürger überhaupt den Soli zahlen, womit dieser zu einer Spezialabgabe für Reiche geworden sei. "Solidarität aller wird zu Solidarität weniger", so Seer. Dass ein Großteil der Einnahmen durch den Soli aus Zuschlägen zur Unternehmenssteuern stammt, wo der Soli ohne Freibeträge abgeführt werden muss, ließ Seer unerwähnt.

Keine Gegenwehr von Seiten des Finanzamts

Circa 30 Minuten dauerte sein ausgefeiltes Plädoyer. Danach war die Gegenseite, das Finanzamt Aschaffenburg, dran. Doch Ernüchterung im Saal trat ein – jedenfalls auf den Medienplätzen. Statt einer Gegenrede erschöpfte sich der circa zweiminütige Vortrag des Vertreters* des Finanzamts Dominik Ostheimer in der Bemerkung, es sei unbestreitbar, dass die Wiedervereinigung noch Kosten verursache. Ansonsten müsse das Finanzamt nun einmal Gesetze anwenden, es habe daher alles seine Richtigkeit. Offenbar wurde Ostheimer von Seiten des Finanzamts erst gar nicht dazu angehalten, den Solidaritätszuschlag zu verteidigen. 

Wohl auch weniger die Aufgabe eines Finanzamts, sondern vielmehr des Bundesfinanzministeriums. Üblicherweise tritt es bei Prozessen vor dem BFH dem Rechtsstreit bei und verteidigt die von der Regierung beschlossenen Steuern und Abgaben mit internen Finanzrechtsexperten und hochspezialisierten Anwälten. Noch unter Finanzminister Olaf Scholz war das Ministerium im Juni 2021 auch in diesem Fall dem Rechtsstreit beigetreten. Doch nach einem kritischen Bericht der Wirtschaftswoche ordnete Finanzminister Christian Lindner nach Informationen der FAZ persönlich den Rückzug vom Beitritt an, so steht doch die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags im FDP-Wahlprogramm. Offenbar wollte er die Abgabe nicht von Juristen aus dem eigenen Hause verteidigen lassen, auch wenn die Abgabe immer noch 11 Milliarden Euro jährlich in den Bundeshaushalt spült - Geld, das Lindner eigentlich gut gebrauchen könnte.

SPD und Grüne kritisieren fehlende Teilnahme des Finanzministeriums am Prozess

Das Verhalten Lindners kritisierte sogar der Koalitionspartner. "Es wäre zu erwarten, dass geltendes Bundesrecht vor dem obersten Finanzgericht nicht allein vom beklagten Finanzamt, sondern auch vom zuständigen Bundesministerium vertreten wird", sagte der SPD-Finanzpolitiker Michael Schrodi den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Ich hätte mir gewünscht, dass es eine stärkere Trennung zwischen Parteivorsitz und Finanzminister gibt." Außerdem seien Steuerausfälle durch eine "Verschonung der obersten Einkommen" derzeit nicht zu verkraften. Ähnliche Kritik kam von der finanzpolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag, Katharina Beck.

Der Soli jedenfalls wurde in der heutigen Verhandlung damit von niemandem verteidigt. Eine mündliche Verhandlung fand nur im Rechtssinne statt, Argumente wurden nicht ausgetauscht. Am 30. Januar will der BFH seine Entscheidung verkünden. Mangels jedweder kritischer Fragen von Seiten der fünf Richter an die Klägervertreter deutet alles darauf hin, dass der BFH von der Verfassungswidrigkeit der Solidaritätszuschlags ausgeht und dem Bundesverfassungsgericht den Fall übermittelt. Dieses hat in Bezug auf Bundesgesetze die alleinige Verwerfungskompetenz.

Mit einer Entscheidung des BVerfG wäre schätzungsweise im Jahre 2024 zu rechnen. Weitere argumentative Enthaltsamkeit von Seiten des Bundesfinanzministeriums könnte den Staatshaushalt dann teuer zu stehen kommen. Denn es geht nicht nur um die Zukunft des Solis, sondern auch darum, ob Rückerstattungen an Bürger und Unternehmen in Milliardenhöhe zu leisten sind.

* Zuvor hieß es hier, Herr Ostheimer sei Rechtsanwalt, korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 19:30 Uhr

Zitiervorschlag

Bundesfinanzministerium erscheint nicht zur Verhandlung: . In: Legal Tribune Online, 17.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50787 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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