2/2: Abgrenzung unmöglich? Warum eigentlich?
Kritiker wie mein Kollege Zimmer verweisen zudem darauf, dass es im Einzelfall schwierig sei, eine tatbestandliche Beleidigung von einer durch die Meinungsfreiheit (gerade noch) gedeckten Aussage zu unterscheiden. Soziale Netzwerke könnten dies in der kurzen Frist von einer Woche nicht leisten. Warum dies so sein sollte, bleibt unbeantwortet. Konzerne, die groß genug sind, um überhaupt in den Anwendungsbereich des Gesetzes zu fallen (die Grenze liegt bei zwei Millionen inländischen Nutzern) dürften durchaus über die finanziellen Mittel verfügen, um genug qualifiziertes Personal einzustellen.
Der Gegenvorschlag des Bundesrates löst dieses behauptete Problem nicht, sondern betreibt Kosmetik: Bei Streit über eine Löschung solle eine - von den sozialen Netzwerken zu finanzierende - Clearing-Stelle entscheiden. Auch die muss aber die - zuvor von den Kritikern in die Nähe der Unentscheidbarkeit gerückte - Abgrenzung zwischen rechtswidrigen und zulässigen Inhalten vornehmen. Warum soll die Clearing-Stelle etwas per se besser können, was man den Netzwerken selbst nicht zumuten will? Immerhin könnte für die Clearing-Stelle das Argument sprechen, dass sie als "halbstaatliche Stelle" Äquidistanz zu Unternehmen und Staat hält. Nur: Wer überwacht die Tätigkeit dieser Stelle? Wer sorgt dafür, dass diese zügig und zielführend arbeitet (tut sie es nicht, ist die Löschung ohnehin vergebens)? Ohne eine irgendwie geartete Kontrolle wird es also nicht gehen. Damit aber müsste eine ausgesprochen komplexe (und komplex finanzierte) Institution gegründet werden, deren Mehrwert gegenüber der im Regierungsentwurf enthaltenen Konstruktion überschaubar ist.
Anknüpfen nur an offenkundig rechtswidrige Inhalte und Evaluierungspflicht
Aber selbst, wenn man an dieser Clearing-Stelle für die Entscheidung von Problemfällen festhalten wollte, muss der Staat dafür sorgen, dass der wirtschaftliche Anreiz zur Nichtlöschung sämtlicher Inhalte durch einen wirtschaftlichen Anreiz zur Löschung strafbarer Inhalte ausgeglichen wird. Verzichtet man nämlich auf die Androhung abschreckender (und, angesichts der Konzerngrößen, durchaus verhältnismäßiger) Bußgelder, wird es auf Seiten der Netzwerke bei der derzeitigen Passivität bleiben, weil ihnen – wie bisher – schlicht ein ökonomischer Anreiz zum Handeln fehlt.
Wollte man den Netzwerken und ihren Unterstützern die Angst vor voreilig verhängten und unverhältnismäßigen Bußgeldern nehmen, könnte ein Kompromiss darin bestehen, die Sanktionen des NetzDG lediglich an das systematische Nichtlöschen offenkundig rechtswidriger Inhalte zu knüpfen. Schließlich ließe sich dem NetzDG auch noch eine Evaluierungspflicht anfügen: Drei Jahre nach Inkrafttreten könnte eine Kommission prüfen, wie die sozialen Netzwerke reagiert haben und ob es zu dem vielfach behaupteten Overblocking gekommen ist. Derartige Präzisierungen des NetzDG wären allemal besser, als dem Drängen der Interessenvertreter der Industrie nachzugeben, das Gesetz auf die lange Bank zu schieben und es damit in aller Stille zu beerdigen.
Der Autor Professor Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Augsburg sowie Leiter einer Forschungsstelle zum Unternehmenssanktionenrecht.
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, Vor der Anhörung im Rechtsausschuss: . In: Legal Tribune Online, 17.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23206 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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