Menschrechtswidrige Haftbedingungen in Belgien: Ster­be­hilfe statt The­rapie?

von Prof. Dr. Marten Breuer

16.01.2015

Der Sterbewunsch eines Sexualstraftäters brachte unlängst das belgische Strafvollzugssystem in Verruf. Weil er seit Jahrzehnten im Gefängnis statt in der Psychiatrie untergebracht war, wollte er sein Leben beenden. Die Presse meldete gar, Belgien sei wegen ähnlicher Fälle schon vierzehn Mal vom EGMR verurteilt worden. Wie das sein kann, erläutert Marten Breuer.

Sexualstraftäter werden in der Öffentlichkeit oftmals ausschließlich als Gefahr, als "tickende Zeitbomben" wahrgenommen. Das Wort von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder "Wegschließen – und zwar für immer" ist manchem noch im Ohr.

Der Fall des wegen mehrfacher Vergewaltigung verurteilten Belgiers Frank Van den Bleeken macht eine andere, tragische Seite der Thematik deutlich. Van den Bleeken wollte sich mit der Gestattung des belgischen Staates das Leben nehmen, da er seit Jahrzehnten ohne nennenswerte psychologische Betreuung in Haft sitzt, ohne Perspektive auf Verbesserung seiner Situation. Seine sexuellen Wahnvorstellungen verursachen ihm nach eigenen Angaben unerträgliche Qualen. Damit war der Anwendungsbereich des 2002 in Belgien eingeführten Gesetzes bezüglich der Euthanasie eröffnet.

Nachdem ihm der assistierte Suizid Anfang Januar zunächst gestattet worden war, betrieben die am Verfahren beteiligten Ärzte aus nicht näher bekannten Gründen das Verfahren nicht weiter und vermieden so in buchstäblich letztem Augenblick einen unglaublichen Skandal. Denn es kann nicht sein, dass ein Mensch dadurch in den Freitod getrieben wird, dass keine ausreichenden Therapieeinrichtungen zur Verfügung stehen. Vor derartigen Missbrauchsgefahren warnen Gegner der aktiven Sterbehilfe schon seit langem – erst kürzlich fand zum Thema Sterbehilfe bzw. assistierter Suizid eine Debatte im Deutschen Bundestag statt.

Psychisch Kranke dürfen nicht in reguläre Haft

Dass Belgien nicht über ausreichende Therapieeinrichtungen für psychisch kranke Sexualstraftäter verfügt, und diese stattdessen in regulären Haftanstalten ohne ausreichende Therapieangebote unterbringt, ist ein seit Jahren bekannter Missstand. Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) lässt eine solche Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken nur zu, wenn sie "rechtmäßig" ist. Das ist sie aber jedenfalls dann nicht mehr, wenn sie Jahre oder gar Jahrzehnte andauert, ohne dass eine psychologische Betreuung sichergestellt wäre.

Im Gegenteil kann die Unterbringung im Extremfall sogar eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Der EGMR erkennt insoweit an, dass die Inhaftierung über einen langen und zugleich unbestimmten Zeitraum ohne jegliche Perspektive einer Verbesserung der Situation für die Betroffenen psychisch äußerst belastend sein kann, was der Fall Van den Bleekens auf krasse Weise verdeutlicht.

Presseberichten zufolge ist das Land deswegen schon vierzehn Mal vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt worden. Wie aber kann es sein, dass gleichwohl bislang keine Abhilfe geschaffen worden ist? Weigert sich der belgische Staat, den Urteilssprüchen aus Straßburg Folge zu leisten? Und wer wacht über die Umsetzung der Urteile des Gerichtshofs?

Ein Gesetz erschafft noch keine Therapieeinrichtung

Die schlechte haftrechtliche Bilanz Belgiens hat zunächst einmal praktische Gründe: Beruht eine Verletzung der EMRK beispielsweise auf einer einzelnen Gesetzesbestimmung, so kann der Gesetzgeber mit einem Federstrich, durch ein Aufhebungsgesetz, den Verstoß aus der Welt schaffen. So einfach liegen die Dinge hier aber nicht.

Ein Gesetz allein führt noch nicht zur Schaffung geeigneter Therapieunterbringungseinrichtungen für psychisch kranke Straftäter. Vielmehr müssen diese auch gebaut, das geeignete Personal ausgebildet und angestellt und die Psychiatrie schließlich in Betrieb genommen werden. Dies erfordert eine Vielzahl administrativer Maßnahmen. Das erklärt zumindest teilweise, warum noch keine grundlegende Besserung der belgischen Zustände eingetreten ist.

Vierzehn Urteile ergingen in zwei Jahren

Die bloße Zahl von vierzehn Verurteilungen erweckt zudem den Eindruck, dass Belgien bereits seit geraumer Zeit der Kritik aus Straßburg ausgesetzt sei. Tatsächlich datieren die ersten vier Grundsatzurteile des EGMR, jeweils am selben Tag verkündet, jedoch erst von Januar 2013 (Fälle Claes, L.B., Dufoort und Swennen). Eine weitere Gruppe von Urteilen, wiederum alle vom selben Tag, erging im Januar 2014 (Fälle Lankester, Gelaude und andere).

Allerdings hat der EGMR bereits in seinen Urteilen aus dem Jahr 2013 von einem "manque structurel", also einem strukturellen Defizit bei der Unterbringung psychisch kranker Straftäter in Belgien gesprochen. Diese Missstände waren den betroffenen Stellen schon damals bekannt – dennoch haben sie keine Veränderungen angestoßen.

Das Versagen des belgischen Staates liegt wohl einerseits in der Komplexität der Materie begründet. Zugleich kann man den Politikern durchaus ein Versagen vorwerfen. Vielleicht wollten sie ihren Wählern einfach nicht erklären, dass viele Steuermillionen in die Unterbringung von verurteilten Vergewaltigern fließen müssen.

Zitiervorschlag

Marten Breuer, Menschrechtswidrige Haftbedingungen in Belgien: . In: Legal Tribune Online, 16.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14392 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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