BAG zu diskriminierender Kündigung: HIV-Infektion ist eine Behinderung

Interessenverbände feierten das Urteil am Donnerstag als wegweisend. Dabei setzte das BAG lediglich europäische Vorgaben um, als es die Kündigung eines HIV-infizierten Mitarbeiters als diskriminierend einstufte. Da die Entscheidung auch für andere chronische Krankheiten gilt, droht nun jede unwirksame Kündigung eines Langzeiterkrankten eine AGG-Entschädigung zur Folge zu haben, meint Michael Fuhlrott.

Möchten Sie ein intravenös zu verabreichendes Medikament injiziert bekommen, das aus einem Labor stammt, in dem ein HIV-infizierter Mitarbeiter im sterilen Bereich an angeschliffenen Hohlkanülen, Glasfläschchen und Aluminiumdeckeln eingesetzt war? Der Arzneimittelhersteller, der sich nun mit einer Diskriminierungs-Klage vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) konfrontiert sah, wollte nicht, dass sich Patienten diese Frage stellen müssen. Deshalb kündigte er einem HIV-infizierten Mitarbeiter noch während der Probezeit unter Hinweis auf die Infektionsgefahren von unbemerkten Stich- und Schnittverletzungen. Schließlich würden selbst Mitarbeiter, die nur vorübergehend an Schnupfen litten, für die Dauer der Erkältung nicht im Reinraumbereich eingesetzt.

Der Arbeitnehmer wehrte sich gegen die Kündigung und machte eine Entschädigung für seinen erlittenen immateriellen Schaden nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geltend, da er wegen einer Behinderung diskriminiert worden sei. Während die Vorinstanzen die Klage noch abgewiesen hatten, weil sie keine Behinderung erkennen konnten, gab das BAG dem Kläger nun Recht (Urt. v. 19.12.2013, Az. 6 AZR 190/12).

Gesellschaftliche Teilhabe beeinträchtigt

Eine Behinderung, so die Erfurter Richter, liege dann vor, wenn körperliche Funktionen, geistige Fähigkeiten oder die seelische Gesundheit eines Menschen langfristig eingeschränkt sei und dadurch in Wechselwirkung mit sozialen Faktoren die gesellschaftliche Teilhabe beeinträchtigt sei. Dazu gehöre auch die Teilhabe am Berufsleben.

Ein an einer symptomlosen HIV-Infektion leidender Arbeitnehmer sei in diesem Sinne behindert. Denn die Erkrankung führe typischerweise zu Stigmatisierung und ansteckungsbedingtem sozialen Vermeidungsverhalten. Dem Kläger sei daher unmittelbar wegen seiner Behinderung diskriminiert worden, was den Tatbestand des § 3 Abs. 1 AGG erfülle.

Anderes gelte nur, wenn der Arbeitgeber darlegen könne, dass trotz angemessener Vorkehrungen ein Einsatz des Arbeitnehmers nicht möglich sei. Im konkreten Fall hatte der Arzneimittelhersteller dies nicht ausreichend vorgetragen, weshalb das BAG den Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an die Vorinstanz zurückverwies.

BAG ändert Rechtsprechung

Mit dem Urteil machen die Erfurter Richter eine Kehrtwende: Im Jahr 1989 hatte das BAG eine Probezeitkündigung eines HIV-infizierten Floristen mit krankheitsbedingten Fehlzeiten nach einem Suizidversuch noch für zulässig angesehen, da die HIV-Infektion allenfalls "mitursächlich" für den Ausspruch der Kündigung war (Urt. v. 16.02.1989, Az. 2 AZR 347/88).

Dieser Rechtsprechung hatte sich im Ergebnis auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg als Vorinstanz des aktuellen Falls angeschlossen und betont, dass dem Kläger "nicht wegen seiner HIV-Infektion als solcher (…), sondern wegen der sich daraus (…) ergebenden fehlenden Einsatzmöglichkeit" gekündigt worden sei. Jedenfalls sei die Kündigung aber gerechtfertigt, da der Arbeitgeber sich gemäß § 8 AGG zulässig auf berufliche Anforderungen gestützt habe (Urt. v. 13.01.2013, Az. 6 Sa 2159/11).

Vollziehung europäischer Vorgaben

Mit der Anerkennung der HIV-Infektion als Behinderung setzt das BAG allerdings lediglich Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) um. Dieser hatte nämlich erst im April dieses Jahres in Auslegung der europäischen Anti-Diskriminierungsrichtlinie betont, dass sowohl heilbare als auch unheilbare Krankheiten eine Behinderung im Sinne der Richtlinie darstellen können (Urt. v. 11.04.2013, Az. C-335/11).

Voraussetzung hierfür sei, dass für eine "lange Dauer" krankheitsbedingt die gleichberechtigte Teilhabe am Berufsleben beeinträchtigt werde. Nach diesen Vorgaben aus Brüssel kam das BAG nicht umhin, das dauerhaft durch eine HIV-Infektion beeinträchtigte Berufsleben als Behinderung anzuerkennen. Insoweit ist die Pressemitteilung des BAG zu dem Urteil sogar wortgleich mit dem Leitsatz der Entscheidung aus Luxemburg.

Urteil führt zu Unsicherheiten

Was ändert sich damit aber für die Praxis? (Probezeit-)Kündigungen HIV-infizierter Arbeitnehmer dürften nur noch dann zulässig sein, wenn der Arbeitgeber genau darlegen kann, dass ein Einsatz des Mitarbeiters ein Ansteckungsrisiko mit sich bringt. Darüber hinaus müssen Unternehmen substantiiert belegen, dass es keine anderen Einsatzmöglichkeiten für den erkrankten Arbeitnehmer gibt.

Außerdem werden künftig weitere chronische Erkrankungen als Behinderung anerkannt werden müssen, wenn diese die gesellschaftliche Teilhabe beeinträchtigen und von "gewisser Dauer" sind. Dabei wird es nicht einfach sein, diese Voraussetzungen auszulegen: Liegt etwa eine gesellschaftliche Beeinträchtigung auch schon bei einem Diabetiker vor, der bestimmte Speisen nicht verzehren darf? Viel spricht dafür, hier etwas mehr zu verlangen. Und ab wann ist eine Erkrankung von "gewisser Dauer"? Genügen bereits sechs Monate?

Weitere Risiken drohen Arbeitgebern bei der Kündigung von Langzeiterkrankten: Jede Kündigung eines Langzeiterkrankten steht nun unter dem Verdacht diskriminierend zu sein. Und damit ist nicht nur die Kündigung unwirksam und der Mitarbeiter weiterzubeschäftigen, sondern womöglich sogar eine Entschädigung nach dem AGG zu zahlen.

Der Autor Dr. Michael Fuhlrott ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht, insb. Arbeitsrecht der Fachhochschule Bielefeld sowie Lehrbeauftragter für Arbeitsrecht der Hochschule Fresenius in Hamburg.

Zitiervorschlag

Michael Fuhlrott, BAG zu diskriminierender Kündigung: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10438 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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