Ein Lieferdienst muss seinen Fahrern ein Fahrrad und ein Mobiltelefon zur Verfügung stellen, so das BAG. Davon abweichende AGB sind unangemessen, erklärt Michael Fuhlrott.
Der Arbeitgeber trägt das wirtschaftliche Risiko und darf den Nutzen aus dem Betrieb ziehen. Dazu gestaltet er den Betriebsablauf und organisiert den Arbeitnehmereinsatz. Damit ist der Arbeitgeber aber auch verpflichtet, dem Arbeitnehmer die zur Erfüllung der Arbeitsleistung notwendigen Betriebsmittel zur Verfügung zu stellen. Bei Fahrerinnen und Fahrern eines Lieferdienstes zählen dazu ein Fahrrad und ein Handy, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) am Mittwoch (Urt. v. 10.11.2021, Az.: 5 AZR 334/21 und 5 AZR 335/21).
Das Unternehmen berief sich auf eine entsprechende arbeitsvertragliche Klausel, wonach die Beschäftigten ihr eigenes Fahrrad und ihr eigenes Mobiltelefon einzusetzen hatten. Die Beschäftigten seien "ohnehin" im Besitz dieser Gegenstände und müssten keine Neuanschaffungen tätigen, deshalb sei die Regelung im Arbeitsvertrag nicht unangemessen. Zudem erhielten sie für jede geleistete Arbeitsstunde eine Gutschrift von 25 Cent, die sie für Fahrradreparaturen bei einer kooperierenden Vertragswerkstatt einsetzen könnten.
Die Beschäftigten hingegen sahen die Klausel als unwirksam an. Der für eine Vielzahl von Arbeitnehmern verwendete und mit den Beschäftigten in ihrer Eigenschaft als Verbraucher abgeschlossene Arbeitsvertrag sei als Allgemeine Geschäftsbedingung (AGB) iSd. § 305 Abs. 1 S. 1, 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB zu qualifizieren. Der Angemessenheitskontrolle nach § 307 Abs. 2, 1 BGB halte die Regelung nicht stand. Sie verlagere das Risiko von Verlust und Beschädigung der eingesetzten Betriebsmittel und damit auch der grundsätzlichen Möglichkeit, der Tätigkeit nachzugehen, einseitig auf die Beschäftigten – so die Argumentation der Fahrradlieferanten.
Niederlage vor dem Arbeitsgericht, Erfolg vor dem Landesarbeitsgericht
Das erstinstanzlich verhandelnde Arbeitsgericht Frankfurt a.M. (Urt. v. 29.1.2020, Az.: 2 Ca 5722/19) sah dies anders. Die Fahrradlieferanten hätten in der Vergangenheit ihre Aufträge unter Nutzung des eigenen Fahrrads und des eigenen Mobiltelefons auf eigene Kosten durchgeführt. Damit hätten sie jedenfalls stillschweigend in eine solche Handhabe eingewilligt.
Auch als das Unternehmen den Fahrradkurieren einen Pfandvertrag vorgelegt habe, hätten die Beschäftigten ihre Tätigkeit fortgesetzt. Der Vertrag sah vor, dass bestimmte Betriebsmittel wie Mütze, Rucksack oder Fahrradhalterung gegen Pfandhinterlegung zur Verfügung gestellt wurden, Fahrrad und Mobiltelefon mit Datenvolumen indes nicht. Damit sei klar gewesen, dass den Mitarbeitenden keine weiteren Betriebsmittel des Arbeitgebers zur Verfügung stünden. Eine solche Regelung sei nicht sittenwidrig gemäß § 138 BGB, sondern Ausfluss der Vertragsfreiheit.
Diese aus Beschäftigtensicht unbefriedigende Entscheidung wollten die beiden klagenden Fahrradlieferanten nicht akzeptieren. Sie wandten sich mit ihrer Berufung an das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG), das das erstinstanzliche Urteil aufhob (Urt. v. 12.03.2021, Az. 14 Sa 306/20). Fahrradlieferanten, die Speisen und Getränke an Kunden ausliefern, haben einen Anspruch auf Stellung eines verkehrstüchtigen Fahrrads und eines internetfähigen Mobiltelefons zur dienstlichen Nutzung gegen ihren Arbeitgeber, so der Leitsatz der Entscheidung.
Und: Der Arbeitgeber dürfe die Beschäftigten auch nicht bezahlt freistellen bzw. müsse diesen die mangels Arbeitsmittels nicht erbrachten Arbeitsstunden vergüten. Das ergebe sich aus dem arbeitnehmerseitigen Beschäftigungsanspruch. Deshalb müsse er seinen Mitarbeitenden die zur Erfüllung der Arbeitsleistung notwendigen Betriebsmittel, also Fahrrad und Mobiltelefon mit ausreichendem Datenvolumen, auch tatsächlich zur Verfügung stellen. Ausnahmen von der Pflicht, die Betriebsmittel zu stellen, seien allenfalls denkbar, wenn ein ausreichender finanzieller Ausgleich für den Einsatz der eigenen Sachen erfolge, so die Frankfurter Richterinnen und Richter.
BAG: Arbeitgeber muss Betriebsmittel stellen
Diese Sichtweise teilte auch das BAG in seiner Entscheidung vom 10. November 2021. Nach der insoweit verbreiteten Pressemitteilung (Nr. 38/21) sei es Sache des Arbeitgebers, die für die Ausübung der Tätigkeit notwendigen Betriebsmittel bereitzustellen. Im konkreten Fall umfasse dies "ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes internetfähiges Mobiltelefon".
Eine Klausel, die diese Pflicht auf die Arbeitnehmer übertrage, sei unangemessenen und nichtig. Ansonsten würde der Arbeitgeber "von entsprechenden Anschaffungs- und Betriebskosten entlastet" und trage nicht das ihm zugewiesene Risiko "für Verschleiß, Wertverfall, Verlust oder Beschädigung der essenziellen Arbeitsmittel einstehen zu müssen".
Eine solche Regelung widerspreche dem gesetzlichen Grundgedanken des Arbeitsverhältnisses, so die Richterinnen und Richter weiter. Anderes könne aber dann gelten, wenn ein angemessener Ersatz für die Nutzung gewährt werde. Eine solche Kompensation sah das BAG in diesem Fall nicht.
Zeitnahe Anpassung der Arbeitsverträge zu erwarten
Das BAG hat damit entschieden, dass vertragliche Konstellationen wie die vorliegende arbeitsrechtlich zu einer unangemessenen Behandlung führen und entsprechende AGB unwirksam sind. Eine kompensationslose arbeitsvertragliche Regelung kann demnach Ansprüche auf die Stellung der benötigten Betriebsmittel nicht ausschließen.
Eine Hintertür verbleibt allerdings insoweit, als dass sich das Urteil nur auf den kompensationslosen Ausschluss der Stellung von Betriebsmitteln bezog. Pauschale Abgeltungsvereinbarungen sind möglich. Die Rechtsprechung akzeptiert derartige Regelungen, wenn dem Arbeitnehmer hierfür ein – auch pauschal bemessener – Ausgleich gewährt wird. Gutschriften für Fahrradreparaturen in geringem Umfang reichen dafür nicht.
Ob die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn dem Fahrradkurier eine monatliche Pauschale von beispielsweise 30 Euro für den Einsatz des eigenen Drahtesels und des Smartphones gewährt worden wäre, ist damit nicht entschieden. Insoweit ist davon auszugehen, dass die besagten Arbeitsverträge unternehmensseitig zeitnah angepasst werden und sich dann vermutlich erneut einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen dürften.
Trostpflaster Mindestlohn und Arbeitnehmerschutz
Als Trostpflaster aber bleibt: Das LAG weist in seiner Entscheidung berechtigterweise darauf hin, dass Fahrradlieferanten "typischerweise keinen Arbeitsverdienst erzielen, bei dem das von ihnen verlangte Vermögensopfer nicht ins Gewicht fiele". Insoweit dürfte die Beschäftigtengruppe der Fahrradkuriere jedenfalls von der geplanten Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro brutto je Stunde profitieren, die sich als Kernaussage im Sondierungspapier der mutmaßlich künftigen Regierungsfraktionen von SPD, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen wiederfindet.
Zudem: Fahrradkuriere, die nach Maßgabe einer App Essen abholen und dies nach detaillierter Vorgabe zu den Kundinnen und Kunden liefern, sind in die betriebliche Struktur des Unternehmens eingebunden und weisungsabhängig. Anderweitigen Gestaltungsmöglichkeiten der Beschäftigung von Fahrradlieferanten – etwa in Form freier Mitarbeit – dürfte spätestens seit dem sog. Crowdworker-Urteil des BAG (Urt. v. 1.12.2020, Az. 9 AZR 102/20) der Boden entzogen sein.
Mit besagter Entscheidung hatte das BAG einen über eine Internetplattform ("Crowd") kleinteilige Aufträge zur Abarbeitung annehmenden, vermeintlich selbständigen Auftragnehmer ("Crowdworker") als Arbeitnehmer qualifiziert. Fahrradkuriere, die in Dienstkleidung nach den Vorgaben des die Essenslieferungen vermittelnden und koordinierenden Unternehmens Essen und Getränke ausliefern, sind damit Arbeitnehmer. Dadurch kommen Sie in den Genuss der gesamten Bandbreite des Arbeitnehmerschutzes, etwa bezahltem Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und Kündigungsschutz. Sie dürften auch einen Betriebsrat gründen.
BAG zu Pflichten des Arbeitgebers: . In: Legal Tribune Online, 10.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46615 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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