Bundesarbeitsgericht: Keine Beschäf­ti­gungs­ga­rantie für schwer­be­hin­derte Men­schen

Gastbeitrag von Dr. Wolfgang Schelling und Christian Kurz

17.05.2019

Schwerbehinderte Menschen haben einen besonderen Beschäftigungsanspruch. Dieser schützt sie nicht vor dem betriebsbedingten Wegfall ihres Arbeitsplatzes, entschied das BAG. Keine Überraschung, zeigen Wolfgang Schelling und Christian Kurz.

Für schwerbehinderte Menschen ist es in der Praxis schwierig, eine Beschäftigung zu finden. Arbeitgeber befürchten nicht selten, dass schwerbehinderte Menschen aufgrund von physischen oder psychischen Beeinträchtigungen die Anforderungen an den Arbeitsplatz nicht erfüllen.

Der europäische Gesetzgeber hat deshalb in Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG geregelt, dass Arbeitgeber angemessene Vorkehrungen treffen müssen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderung gleich behandelt werden. Arbeitgeber haben die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen belasten den Arbeitgeber unverhältnismäßig.

§ 164 Abs. 4 SGB IX (bis 31.12.2017: § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX) setzt Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG um. Nach § 164 Abs. S. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen einen besonderen Beschäftigungsanspruch. Sie haben einen Anspruch auf Beschäftigung entsprechend ihrer Fähigkeiten und Kenntnissen (Nr. 1) sowie auf eine behinderungsgerechte Einrichtung (Nr. 4) und Ausstattung (Nr. 5) ihres Arbeitsplatzes.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) nahm nun zum Verhältnis dieses Beschäftigungsanspruchs zur unternehmerischen Organisationsfreiheit des Arbeitgebers Stellung und entschied, dass die unternehmerische Entscheidung zum Wegfall des Arbeitsplatzes des schwerbehinderten Menschen führen könne (Urt. v. 16.05.2019, Az. 6 AZR 329/18).

Der Fall: Streit um Weiterbeschäftigung

Der im aktuellen Fall klagende, schwerbehinderte Arbeitnehmer war bei der beklagten Arbeitgeberin seit 1982 mit Hilfstätigkeiten in der "Kernmacherei" beschäftigt. Neben ihm gab es noch vier weitere Kernmacher.

Am 29.03.2016 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Aufgrund verminderter Arbeitsbelastung wurden nur noch vier Mitarbeiter in der Kernmacherei benötigt. Nach Zustimmung des Integrationsamts kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis des schwerbehinderten Arbeitnehmers.

Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem freien Arbeitsplatz bestand unstreitig nicht. Der schwerbehinderte Arbeitnehmer argumentierte, sein Arbeitsplatz sei ungeachtet der unternehmerischen Entscheidung seiner Arbeitgeberin, die von ihm ausgeübten Hilfstätigkeiten von den verbleibenden Facharbeitern miterledigen zu lassen, nicht weggefallen. Sein Beschäftigungsanspruch aus § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 SGB IX stehe der Umverteilung seiner Tätigkeiten auf andere Arbeitskräfte entgegen. Die Kündigung sei deshalb unwirksam.

Kein Erfolg vor den Arbeitsgerichten

Die Klage des Arbeitnehmers blieb in der ersten (Arbeitsgericht Hagen, Urt. v. 25.10.2016, Az. 4 Ca 881/16) und der zweiten Instanz (LAG Hamm, Urt. v. 05.01.2018, Az. 16 Sa 1410/16) ohne Erfolg. Das LAG Hamm war der Ansicht, dass es der Arbeitgeberin - vor dem Hintergrund der Insolvenz und der Masseunzulänglichkeit - nicht zumutbar gewesen sei (§ 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX), die Umverteilung der Arbeitsaufgaben zu unterlassen bzw. rückgängig zu machen oder für den Arbeitnehmer einen anderen, zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten. Beides würde darauf hinauslaufen, dass die Arbeitgeberin einen tatsächlich nicht benötigten Arbeitsplatz unterhalten müsste.

Die Revision des Arbeitnehmers war am Donnerstag erfolglos. Das BAG entschied: Der Anspruch schwerbehinderter Menschen nach § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX auf Durchführung des Arbeitsverhältnisses entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation gebe diesen keine Beschäftigungsgarantie. Der Arbeitgeber könne eine unternehmerische Entscheidung treffen, welche den bisherigen Arbeitsplatz des Schwerbehinderten durch eine Organisationsänderung entfallen lässt. Der Beschäftigungsanspruch sei erst bei Prüfung etwaiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen freien Arbeitsplatz zu berücksichtigen.

Keine Überraschung

Die überzeugende Entscheidung des 6. Senats überrascht nicht. Zwar hat das BAG bereits entschieden, dass der Anspruch auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung den Arbeitgeber gemäß § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 SGB IX dazu verpflichten kann, eine geplante Umstrukturierung zu unterlassen oder eine bereits durchgeführte Umstrukturierung ganz oder teilweise rückgängig zu machen (Urt. v. 14.03.2006, Az. 9 AZR 411/05). Dem Fall lag allerdings eine Organisationsentscheidung des Arbeitgebers zugrunde, die nicht zum Wegfall des Arbeitsplatzes führte, sondern lediglich dazu, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage war, seinen Arbeitsplatz auszuüben.

Zweck des Beschäftigungsanspruchs aus § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX ist nicht, schwerbehinderte Menschen generell vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu schützen, sondern ihnen einen behinderungsgerechten Zugang zu einer Beschäftigung zu ermöglichen (vgl. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG). Dies setzt allerdings zunächst eine bestehende Beschäftigungsmöglichkeit voraus. Führt die unternehmerische Entscheidung zum Wegfall eines bestimmten Arbeitsplatzes, fehlt es gerade an einer Beschäftigungsmöglichkeit auf diesem Arbeitsplatz.

Bei Wegfall des Arbeitsplatzes ist der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht relevant: Auch ein nicht schwerbehinderter Mensch würde - unabhängig von seiner körperlichen Verfassung - seine Beschäftigungsmöglichkeit auf dem konkreten Arbeitsplatz verlieren. Eine derartige Besserstellung gegenüber nichtbehinderten Menschen und ein solch gravierender Eingriff in die unternehmerische Organisationsfreiheit wird von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG nicht bezweckt und ist dem Wortlaut von § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX nicht zu entnehmen.

Das BAG setzt mithin seine Rechtsprechung fort, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer keinen Anspruch aus § 164 S. 1 SGB IX gegenüber dem Arbeitgeber auf Einrichtung eines zusätzlichen, nicht bestehenden Arbeitsplatz hat (Urt. v. 28.04.1998, Az. 9 AZR 348/97 u. Urt. v. 10.05.2005, Az. 9 AZR 230/04).

Richtig ist, dass der Arbeitgeber den besonderen Beschäftigungsanspruch bei der Prüfung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen, freien Arbeitsplatz berücksichtigen muss. Denn auf dieser Ebene kann und muss die durch Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG bezweckte Gleichbehandlung schwerbehinderter Menschen beachtet werden. Besteht ein freier Arbeitsplatz, wird der Arbeitgeber daher zu prüfen haben, ob eine behinderungsgerechte Einrichtung (§ 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4) und Ausstattung (§ 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 5) des Arbeitsplatzes es dem schwerbehinderten Menschen ermöglicht, auf dem freien Arbeitsplatz tätig zu werden.

Insolvenzrechtliche Besonderheiten

Interessant sind auch die insolvenzrechtlichen Einflüsse auf die im Streit stehende betriebsbedingte Kündigung:

Die Arbeitgeberin musste gemäß § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht im Rahmen der Sozialauswahl berücksichtigen. Außerdem hat ein etwaiger tariflicher Sonderkündigungsschutz gemäß § 113 S. 1 InsO bei der Kündigung durch den Insolvenzverwalter keine Wirkung.

Das BAG traf am Donnerstag damit eine begrüßenswerte Entscheidung, die auf die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers Rücksicht nimmt und den besonderen Beschäftigungsanspruch eines schwerbehinderten Menschen bei der betriebsbedingten Kündigung zutreffend im Rahmen des Weiterbeschäftigungsanspruchs verortet.

Arbeitgeber werden vor einer betriebsbedingten Kündigung schwerbehinderter Menschen zu prüfen haben, ob freie Arbeitsplätze durch Schaffung behindertengerechter Umstände mit dem schwerbehinderten Arbeitnehmer besetzt werden können. Besteht allerdings schon kein freier Arbeitsplatz, so läuft auch der besondere Beschäftigungsanspruch ins Leere.

Der Autor Dr. Wolfgang Schelling ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei der Kanzlei Noerr LLP. Der Autor Christian Kurz ist Rechtsanwalt im Bereich Arbeitsrecht bei der Kanzlei Noerr LLP.

Zitiervorschlag

Bundesarbeitsgericht: . In: Legal Tribune Online, 17.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35445 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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