Karfreitagsruhe, Schächten, Kreuze, Kopftuch, Glockengeläut – auch Menschen, die mit Religion nichts zu tun haben wollen, werden ständig damit konfrontiert. Das müssen sie aushalten, meint Antje von Ungern-Sternberg im Interview.
LTO: Frau Professorin von Ungern-Sternberg, Art. 4 Grundgesetz (GG) schützt die Religionsfreiheit, zudem ist von einem "Gott" in der Präambel die Rede. Was haben dieses Recht und dieses Wort in der Verfassung eines Staates zu suchen, der behauptet, säkular sein?
Dr. Antje von Ungern-Sternberg: Dass man Grundrechte wie die Religionsfreiheit in einer freiheitlichen Verfassung schützt, ist zwingend erforderlich und Bestandteil eines jeden modernen Grundrechtskatalogs. Denn es gilt, religiöse Lebensformen von Menschen aller Glaubensrichtungen zu schützen. Die – religiösen oder säkularen Ansichten – der Mehrheit bringen für Andersgläubige, Atheisten und Agnostiker immer auch eine Gefährdung derer Rechte mit sich. Der Schutz aus Art. 4 ist daher die Antwort auf typische Gefährdungslagen und bildet gerade keinen Gegensatz zur säkularen Verfassungsordnung.
Dass Gott in der Präambel steht, ist nicht zwingend, aber geschichtlich zu erklären aus der Situation 1949. Der Neuanfang sollte feierlich formuliert werden und man wollte – gerade in Abkehr vom Nationalsozialismus – betonen, dass man den Staat nicht absolut setzt, sondern sich in der Verantwortung vor den Menschen und eben auch Gott sieht – jedenfalls, sofern man, wie die Christen im damaligen parlamentarischen Rat, an ihn glaubte. Das ist aber bis heute keine Formulierung, die der säkularen Verfassungsordnung entgegensteht, weil sie niemanden zum Glauben oder zu einer bestimmten Religion verpflichtet.
Sie sprechen vom zwingenden Erfordernis von Religionsfreiheit in einer modernen Gesellschaftsordnung. Ist die Religion tatsächlich in modernen Verfassungsordnungen in einem vergleichbaren Umfang geschützt wie im GG?
Ja, und es ist naheliegend, dass das so ist. Denn der Streit um die richtige Religion hat in den meisten Ländern geschichtlich eine große Rolle gespielt. Es war ein Fortschritt, als das Recht erlaubte, dass jeder glauben oder nicht glauben darf - auch Agnostiker oder Atheist zu sein ist ja von der Religionsfreiheit erfasst. Es ist eine Errungenschaft, die typischerweise in Europa, aber auch darüber hinaus geschaffen wurde.
"Keiner darf beleidigt sein, weil jemand seine Religion zeigt"
Die Religionsausübung, die dieses Grundrecht erlaubt, steht allerdings immer wieder stark in der Diskussion, nehmen wir das Glockengeläut, über das sich Nachbarn ärgern, Muezzin-Rufe, Schächten, Kopftücher oder Kreuze in öffentlichen Einrichtungen. Auf der anderen Seite stehen die Klagen der selbsternannten "Kirche des fliegenden Spaghettimonsters", die die aufzeigen möchte, wie absurd Religion ist. Würde es nicht mehr Frieden bringen, wenn man sagen würde: Ihr habt die allgemeine Handlungsfreiheit, aber damit reicht es auch, gerade vor dem Hintergrund, dass sich zunehmend Menschen von der Kirche abkehren?
In einer pluralistischen Gesellschaft kann man auf zweierlei Weise mit Konflikten umgehen. Man kann sie unter den Teppich kehren und aus dem öffentlichen Raum verdrängen. So macht es teilweise Frankreich, dort sind Kopftücher für Schüler- und Lehrerinnen in der Schule und Burkas auf öffentlichen Straßen verboten.
Ich glaube, eine solche Konfliktlösung steht einem freiheitlich orientierten Staat nicht gut an, denn auf diese Weise verliert immer eine Seite. In unserem System haben wir für die Konflikte einer pluralistischen Gesellschaft Regeln geschaffen, die insbesondere besagen, dass keiner beleidigt sein darf, nur weil ein anderer seine Religion nach außen sichtbar zeigt. Daher wäre bei uns ein Verbot des Kopftuches in der Schule oder der Burka auf der Straße verfassungsrechtlich nicht durchsetzbar.
Die allgemeine Handlungsfreiheit reicht dafür nicht, die reicht als Auffangbecken für das Reiten im Walde oder die Freiheit, Schokolade zu essen. Das ist nicht in gleicher Weise schutzwürdig wie die Religionsausübung, die ja immer dann zu Konflikten führt, wenn Minderheiten etwas tun, was der Mehrheit sauer aufstößt. Genau das muss so ein Grundrecht schützen.
"Religion hat Sprengkraft"
Die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft verändert sich und damit auch die religiösen Bräuche, die es zu schützen gilt. Das Tragen von Kopftüchern oder der Burka wiederum verändert die deutsche Gesellschaft. Kann das noch im Sinne der Väter und Mütter des deutschen GG sein?
Ob die Väter und Mütter des GG erwartet haben, dass die Gesellschaft durch die Globalisierung und Zuwanderung so pluralistisch wird, kann man wohl kaum mehr sagen. Man war aber schon damals sehr bemüht, das Grundgesetz für Völkerrecht und internationale Zusammenarbeit zu öffnen. Bei der Religionsfreiheit zum Schutz von Minderheiten hatte man nicht nur den Holocaust vor Augen, sondern auch die Zeugen Jehovas, die zB die Teilnahmen an Wahlen oder Bluttransfusionen ablehnen. Es ist also sicherlich im Sinne des parlamentarischen Rates, die Religionsfreiheit ernst zu nehmen.
Der Grundrechtsschutz ist aufgrund der besonders weitreichenden und liberalen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sehr ausgeprägt. Das hängt mit dem besonderen Stellenwert der Grundrechte und der starken Position des BVerfG zusammen. Das Gericht hat in den knapp 70 Jahren seines Bestehens ganz erheblich zum Grundrechtsschutz beigetragen und ist dabei liberaler als andere Verfassungsgerichte. Dies ist eine Tradition, an die man gut anknüpfen kann und die sicherlich von den Müttern und Vätern des GG nicht abgelehnt worden wäre. Vielmehr ist es wichtig und im Sinne des GG, dass sich das Recht den gesellschaftlichen Entwicklungen anpasst und den Menschen Schutz bietet, die ihn benötigen, auch wenn Religion in diesen Debatten Sprengkraft hat.
"Austarieren, nicht zwangsläufig erweitern"
Wird damit der Schutz aus Art. 4 GG nicht immer weiter ausgedehnt?
Nein, denn es geht vor allem um den Prozess des Austarierens. In einer Gesellschaft, in der nur vereinzelt Schüler nicht zum Schwimmunterricht gingen oder bei der Evolutionstheorie vom Biologieunterricht fernbleiben sollten, war man mit der Durchsetzung der Schulpflicht sehr viel großzügiger als heute. Die Rechtsprechung hat inzwischen klar gemacht, dass diese offenen Standards aus früheren Zeiten nicht mehr gelten und den Gläubigen mehr zugemutet werden kann, dass also zB die Pflicht für muslimische Mädchen besteht, am koedukativen Sport- und Schwimmunterreicht teilzunehmen. Das Recht, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen, hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach bekräftigt, wobei hier auch der EuGH mitzureden hat.
Mit all diesen Themen ist aber die Religionsfreiheit genau so aktuell wie vor 70 Jahren. So lange Menschen aufgrund ihrer Religion Anfeindungen ausgesetzt sind, bleibt es ist die Aufgabe der Religionsfreiheit, immer wieder Mindeststandards zu ihrem Schutz zu formulieren
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Die Interviewpartnerin Professorin Dr. Antje von Ungern-Sternberg hat eine Professur für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Völkerrecht an der Universität Trier.
70 Jahre GG – die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG: . In: Legal Tribune Online, 20.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35467 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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