70 Jahre GG – das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG: "Das Leben ist nicht der Höchst­wert der Ver­fas­sung"

Interview von Maximilian Amos

22.05.2019

Was machen Liberalisierungen in der Sterbehilfe oder der vorgeburtlichen Diagnostik mit unserer Gesellschaft? Udo Di Fabio im Interview über die Gefahr eines "sittlichen Neoliberalismus" und was Hybridwesen damit zu tun haben.

Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, einen Blick auf wichtige Normen und Werte der deutschen Verfassung zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes vor.

LTO: Herr Professor Di Fabio, das Recht auf Leben, also die Garantie, dass der Staat nicht willkürlich das Leben seiner Bürger nehmen darf, klingt aus heutiger Sicht wie eine Selbstverständlichkeit. Was hat den verfassungsgebenden Gesetzgeber damals bewogen, es in das Grundgesetz aufzunehmen?

Professor Di Fabio: Eine Verfassung beschäftigt sich klassischerweise mit der staatlichen Ordnung und der individuellen Freiheit. Das tut unser Grundgesetz auch, u. a. mit Art. 2 Abs. 1, dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Erfahrung mit der Naziherrschaft, dem Totalitarismus im 20. Jahrhundert hat aber gezeigt, dass auch die physische Basis der Entfaltungsfreiheit durch den Staat bedroht werden kann. Der Lebensgarantie kommt vor diesem Hintergrund eine sehr hohe Bedeutung zu: Lebensanspruch und das Leben als Basis jeder Würde und Freiheit muss geachtet werden, zumal dort wo es verletzlich ist; es darf nie politisch oder wirtschaftlich zu einem bloßen Kalkulationsfaktor werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Recht auf Leben als die "vitale Basis der Menschenwürde" bezeichnet, manche sprechen von ihm als Höchstwert der Verfassung. Steht damit das Leben funktionell sogar über der unantastbaren Würde?

Nein, das Leben ist nicht der, sondern nur ein Höchstwert der Verfassung. Der Höchstwert, wenn man die superlative Ausdrucksweise denn unbedingt will,  ist die Würde des Menschen, weshalb sie auch den Grundrechten vorangestellt wird. Anderenfalls könnten wir von den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nicht die Aufopferung ihres Lebens im Einsatz verlangen.

"Muskelerschlaffung" in der Lebensschutzdebatte

Nicht jeder Eingriff in das Leben ist aber auch ein Eingriff in die Würde. Wann hängen Menschenwürde und Leben zusammen?

Wir kennen im Polizeirecht die Möglichkeit des "finalen Rettungsschusses". Da nimmt der Staat das Leben des Geiselnehmers – und zwar ganz gezielt, um das Leben des Opfers zu retten. Der Geiselnehmer wird dabei nicht zum bloßen Objekt einer staatlichen Maßnahme gemacht, weil er diese Situation selbst herbeigeführt hat und sie beherrscht. Etwas anderes gilt, wenn die Polizei sich entschließen würde, unschuldige Menschen gegen ihren Willen zu opfern, um Schlimmeres zu verhindern. Für Utilitaristen ist das möglich, aber hier wird das Menschenleben doch unter Umständen zu einem bloßen Objekt, zu einer rechnerischen Größe gemacht: Das ist der Fall der Würdeverletzung.

(c) Prof. Di Fabio2017 erlaubte das Bundesverwaltungsgericht den Zugang zu tödlichen Betäubungsmitteln zum Suizid und auch das Bundesverfassungsgericht ließ jüngst in der Verhandlung über § 217 Strafgesetzbuch eine deutliche Tendenz in Richtung mehr Autonomie für Suizidenten erkennen. Inwiefern erleben wir heute ein anderes Verständnis des Rechts auf Leben als vor 70 Jahren?

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts war im Kern ein gewalteiliges Problem, weil sie diese wirklich wesentliche Frage eines politischen Gemeinwesens letztlich ohne klares Votum des parlamentarischen Gesetzgebers beantwortet hat. Im Fall des § 217 StGB gibt es diese demokratische Entscheidung und das Bundesverfassungsgericht wird sich gewiss nicht ohne Not unter Berufung auf die persönliche Selbstbestimmung darüber hinwegsetzen. Schließlich ist die Hilfestellung, zumal die gewerbsmäßige, ein sensibler Bereich der gesellschaftlichen Identität.

Die demokratische Mehrheit kann und muss womöglich Regeln auch für den Umgang mit höchstpersönlichen Entscheidungen setzen, sei es bei Veränderungen des menschlichen Erbguts, sei es bei der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Für die schwierige Spannungslage zwischen dem Respekt vor individueller Selbstbestimmung und dem ebenso großen Respekt vor einer demokratischen Entscheidung, welche sittlichen Regeln gelten sollen, scheint mir mitunter in der Öffentlichkeit das Verständnis zu schwinden: eine Art institutionelle Muskelerschlaffung.

Gibt es für Sie einen Widerspruch zwischen der großen Bedeutung des Rechts auf Leben und der zunehmenden Liberalisierung von Sterbehilfe und Suizid?

Ich glaube, dass in einer Gesellschaft, die – noch nicht heute, aber vielleicht morgen – unter Druck gerät, weil sie überaltert oder die Mittel nicht mehr in dem Maße vorhanden sind wie heute, eine schleichende Erosion der Achtung des Lebens erleben könnte. Es könnte sich damit eine Praxis einschleichen, die von der Euthanasie zumindest nicht mehr kategorial entfernt wäre. Solchen Prozessen darf die Rechtsordnung mit klaren Signalen auch präventiv entgegenwirken.

Das Grundgesetz zwischen Identitätsgarantie und "living instrument"

Ein anderes Problemfeld ist der Lebensanfang. Auch dort stellen die Möglichkeiten der modernen Medizin das Recht vor Herausforderungen, bspw. bei Fragen nach Selektion von Embryonen, die ein erhöhtes Risiko schwerer Krankheiten haben. Wo stößt die vorgeburtliche Diagnostik an Grenzen der Verfassung?

Das lässt sich so pauschal wohl nicht sagen, denn es kommt immer auf den Kontext an. Ist der Kontext vereinbar mit der Achtung des Lebens und des Menschen?

Dass Eltern in einer bestimmten Notlage eine Präimplantationsdiagnostik vornehmen lassen, kann gerechtfertigt sein. Wenn sie dagegen nach Intelligenzmerkmalen oder Haarfarbe eine Auswahl treffen, dann darf das die Rechtsordnung unterbinden, weil das einen Umgang mit dem menschlichen Leben darstellt, der auch unter sterilen Laborbedingungen dann doch an Menschenzüchtung erinnert. Ich halte es deshalb für richtig, dass Grenzen formuliert und im Verfahren dafür spezielle Ethikkommissionen gebildet werden, die auch für die Beurteilung schwieriger Grenzfälle Vergleichserfahrungen haben.

Gerade in Fragen des Lebensschutzes wird gern die "slippery slope" zitiert – die schiefe Ebene, der Dammbruch. Wann ist die Tür so weit aufgestoßen, dass fatale Entwicklungen nicht mehr aufzuhalten sind? Halten Sie es für realistisch, dass die Rechtsordnung einmal ein „Bis hierher und nicht weiter“ als Grenze wird benennen können?

Eine Gesellschaft verändert sich und ihre Maßstäbe. Die Kardinalfrage der Verfassungsinterpretation lautet: Wie weit ist die Verfassung ein „living instrument“ und muss sich dem gesellschaftlichen Wandel anpassen und wo ist ihre Identität in Frage gestellt und Beharrungsvermögen verlangt? Das Grundgesetz belegt mit seiner Ewigkeitsgarantie und dem Widerstandsrecht, dass es einen unverfügbaren Kern hat. Der Umgang mit dieser Spannungslage zwischen gesellschaftlichem Wandel und der Bewahrung des normativen Kerns unseres Menschen- und Weltbildes kann nicht alleine in Karlsruhe bewältigt werden, sondern braucht eine Gemeinschaftsleistung von Verfassungsinterpreten, Parlamenten, Ethikkommissionen und letztlich von allen Bürgern.

Angesichts aller aktuellen Problemfelder: Sehen Sie einen drohenden Bedeutungsverlust  des Rechts auf Leben?

Ich will nichts dramatisieren, aber ich sehe die Möglichkeit, dass es zu einer Erosion des Bewusstseins unseres Menschen- und Weltbildes kommen könnte. Es war überfällig, die Selbsttötung aus der Verengung eines theologischen Korsetts zu lösen, das dazu führte, „Selbstmörder“ jenseits der Mauern des christlichen Friedhofs zu verbannen. Jetzt scheint mir das Pendel aber sehr weit in die Gegenrichtung auszuschlagen, wenn die Gesellschaft plötzlich dem Suizidwilligen es einfach nur noch leicht machen soll. Es ist eben nicht nur eine theologische Prämisse, das Leben als ein besonderes Geschenk zu sehen, diese Wertschätzung gehört auch zum Humanismus des Grundgesetzes.

Hat demnach nicht die stärkere Fokussierung auf die Autonomie des Einzelnen gegenüber einem paternalistischen Lebensschutz der Gesellschaft bis heute mehr Nutzen als Schaden gebracht?

Die alten großen Kollektive, Familie, Kirche, Nation, sie sind bis zum völligen Gestaltverlust abgebaut. Ihre Rollenklischees und Verhaltensgebote konnten in seiner sich individualisierenden, emanzipierten Gesellschaft nicht bestehen. Das ist gut, soweit sie repressiv waren. Aber freiwillig getragene Gemeinschaftsbildungen sind auch für die moderne Gesellschaft unentbehrlich. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh gesagt, der Einzelne sei kein selbstherrliches Individuum, sondern ein sozial orientiertes Wesen, das von den sittlichen Maßstäben einer Gemeinschaftsordnung abhängig ist, von Maßstäben, die es zugleich mitprägt.

Schon seit einiger Zeit mache ich mir Sorgen, dass wir diese konstruktive und immer anspruchsvolle Beziehung zugunsten einer rein individuell verstandenen Selbstbestimmung auflösen, sozusagen ein sittlicher Neoliberalismus, der irgendwann die Grundlagen der liberalen Demokratie ebenso gefährden könnte wie eine entfesselte Finanzwirtschaft das Ansehen der Marktwirtschaft beschädigt hat. Wir können dann nur noch dem am lautesten vorgetragenen Selbstbestimmungsanspruch Folge leisten, weil eine Gesellschaft, die ihre Regeln anders festlegt, damit in Konflikt geriete.

"Das GG ist eine Verfassung des Optimismus"

In welche Richtung dürfte sich eine das Leben achtende Gesellschaft ihrer Meinung nach nicht entwickeln?

Ich würde sagen, der Lebensschutz wäre bspw. dann in Gefahr, wenn man Hybridwesen aus Mensch und Tier oder Mensch und künstlicher Intelligenz schüfe, was uns vor die Frage stellte, ob man ihnen den humanen Lebensschutz zuspricht oder nicht. Das würde die staatliche Rechtsordnung in einer ungekannten Weise herausfordern.

Ob das jemals möglich sein wird, weiß ich natürlich nicht. Aber sollte man dann die Schaffung eines solchen Wesens verbieten? Oder sollte man die Konsequenz ziehen, die Konstruktion solcher Hybride als persönliche Entscheidung anzuerkennen? Das zeigt, dass sich das Selbstbestimmungsrecht in einer Spannungslage zum menschlichen Gattungsbegriff befindet. Wenn wir das technische Artefakt mit wie immer geartetem "Selbstbewusstsein" als dem Menschen gleichwertig anerkennen, kommen wir in Schwierigkeiten gegenüber Menschen, die kein Bewusstsein haben. Manches klingt wie Science-Fiction, aber wir diskutieren so etwas bereits heute, etwa beim automatisierten Fahren. Immerhin haben Juristen der Europäischen Kommission nahegelegt, künstlicher Intelligenz Rechtspersönlichkeit zuzusprechen.

Wie lassen sich die besondere Bedeutung des menschlichen Lebens und die fortschreitenden technischen und medizinischen Möglichkeiten miteinander vereinen?

Das Grundgesetz ist eine Verfassung der Vorsicht, aber auch eine Verfassung des Optimismus. Es hat großes Vertrauen in die Selbstentfaltungsfähigkeit des Menschen und in die Entwicklung einer sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie. Das überträgt uns allerdings eine große Verantwortung - eine Pflicht zur ernsthaften Umsicht, die unsere ideellen Grundlagen bei jeder aktuellen Diskussion als Merkposten mitführt. Die westlichen Werte haben eine ungeheure Kraft, die im Prinzip der Freiheit und der Selbstregierung des Volkes liegen. In den 20-er und 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat man schon einmal gedacht, dass dem nicht so sei und damit eine katastrophale Entwicklung ausgelöst. Doch ich bin optimistisch: Das Grundgesetz wird auch in den kommenden 70 Jahren Kompass für die aufgeklärte Gesellschaft sein.

Prof. Dr. Udo Di Fabio ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn und war von 1999 bis 2011 Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Die Fragen stellte Maximilian Amos.

Zitiervorschlag

70 Jahre GG – das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG: . In: Legal Tribune Online, 22.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35537 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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