Neuer BMI-Vorschlag zur Volksverhetzung: Deut­sches Straf­recht für den Welt­frieden?

von Dr. Max Kolter

06.05.2024

Seit Monaten wird diskutiert, israelfeindliche Aussagen unter Strafe zu stellen. Nachdem ein Entwurf der Union wohl verfassungswidrig gewesen wäre, prescht das BMI nun mit einem neuen Vorschlag vor. Das BMJ hält diesen für "systemfremd".

Wie sollte der Staat auf antisemitische Hetze reagieren? Wie kann er ihr vorbeugen? Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten – jedenfalls keine, über die schnell Konsens herrschte. Das zeigt sich in einer Debatte unter Rechtspolitikern in Bund und Ländern um eine mögliche Verschärfung des Straftatbestands der Volksverhetzung. Die könnte sogar zu einem (weiteren) Koalitionsstreit führen, nämlich zwischen SPD-Bundesinnenministerium (BMI) und dem FPD-Bundesjustizministerium (BMJ).

Das BMI will § 130 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) um eine Variante erweitern, welche Äußerungen unter Strafe stellt, die sich nicht gegen Menschen richten, sondern gegen das Existenzrecht ausländischer Staaten. Das BMJ hingegen sieht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Das geht aus einem Briefwechsel zwischen den zuständigen Staatssekretären der beiden Ministerien hervor, über den zuerst der Spiegel berichtete.

Der neue BMI-Vorschlag nennt Israel nicht ausdrücklich. Stattdessen soll nach übereinstimmenden Berichten von Spiegel und SZ in § 130 Abs. 1 StGB eine Tatmodalität aufgenommen werden, wonach sich wegen Volksverhetzung strafbar macht, wer durch eine Äußerung "auswärtige Belange" der Bundesrepublik gefährdet. "Diese Tatbestandsalternative wäre etwa erfüllt, wenn zu Hass oder Gewalt gegen die Bevölkerung in Israel aufgestachelt würde", wird BMI-Innenstaatssekretär Hans-Georg Engelke zitiert. Dabei geht die vage Formulierung "auswärtige Belange" viel weiter als das  und das soll sie auch: Es geht offenbar darum, Aussagen zu sanktionieren, die sich überhaupt nicht oder nicht eindeutig gegen Menschen richten, sondern gegen Staaten, insbesondere den Staat Israel.

Dass der Staat Israel nicht erwähnt wird, hat verfassungsrechtliche Gründe: Auch israelfeindliche und antisemitische Aussagen sind rechtlich als Meinungsäußerungen zu qualifizieren. Einschränken oder verbieten kann sie gemäß Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz (GG) nur ein "allgemeines Gesetz", also eines, das dem Schutz anderer Rechtsgüter dient und nicht eine bestimmte Meinung als solche verbieten will. An dieser verfassungsrechtlich zentralen Voraussetzung scheiterte bereits ein im November von der Unionsfraktion eingebrachter Gesetzentwurf. Doch der BMI-Vorschlag begegnet ähnlichen Bedenken.

Immer wieder "From the River to the Sea"

Die Debatte um eine Verschärfung der Volksverhetzung im Bereich israelbezogener Aussagen hatte bereits im Oktober Hessens Justizminister Roman Poseck (CDU) angestoßen; LTO hatte ausführlich berichtet. Der von Poseck auf die Tagesordnung der Justizministerkonferenz gesetzte Beschlussvorschlag sah vor, die "Leugnung des Existenzrechts Israels" im Strafgesetzbuch (StGB) ausdrücklich unter Strafe zu stellen. Der Vorschlag beruht auf der Annahme, eine solche Existenzrechtsleugnung sei stets antisemitisch, ohne darauf einzugehen, inwiefern man ein Recht zu existieren – oder weiter zu existieren? – überhaupt wie eine Tatsache leugnen kann.

Konkret hatte Poseck dabei die Parole "From the River to the Sea, Palestine will be Free" im Kopf. Diese erfüllt nicht per se den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 StGB. Dieser setzt in seinen bisherigen Varianten nämlich voraus, dass gegen eine bestimmte Personengruppe gehetzt wird – und zwar eine, die sich im Inland, also in Deutschland, aufhält. Der Bedeutungsgehalt des Slogans ist umstritten: Manche sehen darin einen Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel mitsamt seinen Bürgern, also auch und vor allem Juden. Andere verstehen ihn als Hoffnung auf eine "Befreiung" der in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten lebenden Menschen – von den mit der Besatzung einhergehenden Freiheitseinschränkungen. Das entspräche der Forderung nach einer friedlichen Ein- oder Zweistaatenlösung. Selbst in der genozidal-antisemitischen Interpretation fällt die Parole nicht unter § 130 Abs. 1 StGB, weil sie sich nicht gegen Juden in Deutschland richtet. Eine Strafbarkeit wegen Billigung von Straftaten (§ 140 StGB) hängt vom Einzelfall ab.

Auf Länderebene wurde der Vorschlag zunächst von Berlins Justizsenatorin Felor Badenberg unterstützt. Die Justizministerkonferenz formulierte in ihrem Beschluss Anfang November schließlich etwas vorsichtiger: Das Strafrecht müsse "den Gefährdungen des öffentlichen Friedens, die sich aus der Leugnung des Existenzrechts des Staates Israel ergeben können, ausreichend Rechnung tragen". Sollten sich Schutzlücken zeigen, werden die Justizminister der Länder zusammen mit Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) "Vorschläge zur Behebung dieser Lücken erarbeiten".

BMJ sieht nach wie vor keinen Handlungsbedarf

Buschmann jedoch zeigte sich – wie andere Ampel-Rechtspolitiker – von Beginn an skeptisch. Man solle nicht in Aktionismus verfallen, das Strafrecht begegne antisemitischen Äußerungen in ausreichendem Maße, hieß es aus dem BMJ Ende Oktober. Nach wie vor hält man an dieser Auffassung dort offenbar fest: Handlungsbedarf sehe das BMJ "derzeit nicht", zitiert der Spiegel aus dem Antwortschreiben von Justizstaatssekretärin Angelika Schlunck, in dem es um den nun aktuellen BMI-Entwurf geht.

Das BMJ begründet seine Haltung bislang vor allem damit, dass der Schutz des StGB vor antisemitischer Hetze nicht lückenhaft sei. Die bestehenden Strafvorschriften müssten "konsequent angewandt werden", schreibt Schlunck laut dem Spiegel. Weiterhin hält das BMJ den Vorschlag aus dem Hause Faeser laut dem Bericht für "systemfremd". Damit nimmt die Justizstaatssekretärin auf ein Problem Bezug, das auch verfassungsrechtlich relevant sein könnte: Wie schon der Gesetzentwurf der Union ist auch bei der BMI-Formulierung zweifelhaft, ob es sich um ein allgemeines Gesetz i. S. v. Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz (GG) handelt.

Zwar stellt der BMI-Vorschlag im Gegensatz zum Poseck-Entwurf keine Israel-spezifischen Äußerungen und damit auch keine bestimmten Meinungen als solche unter Strafe. Jedoch ist fraglich, welches Rechtsgut die geplante Tatbestandsvariante des § 130 StGB schützen soll. "Das Rechtsgut des Volksverhetzungstatbestandes ist bislang schon schwer zu fassen, wird aber überwiegend im innerstaatlichen öffentlichen Frieden gesehen. Dieser Bezug würde mit der schlüpfrigen Formel von den 'auswärtigen Belangen' dauerhaft aufgegeben", moniert Strafrechtsprofessor Matthias Jahn (Goethe-Universität Frankfurt) gegenüber LTO.

Weltfrieden als Schutzzweck?

Auch den Poseck-Entwurf sowie einen Vorschlag der Leipziger Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven hatte Jahn gegenüber LTO aus ähnlichen Gründen kritisch gesehen. Dass der Volksverhetzungsparagraf nur Hetze gegen Personen im Inland sanktioniere, habe gute Gründe.

Eine Äußerung über einen politischen Konflikt im Ausland – möge ihr Inhalt noch so unsensibel, geschichtsvergessen und falsch sein – bleibt nach Jahns Auffassung zu Recht straflos, wenn sie keine inländische Bevölkerungsgruppe betrifft. "Es fehlt der Bezug zum deutschen Strafrecht. Was soll dann das geschützte Rechtsgut sein: der Weltfrieden?" Ohne Inlandsbezug seien das Delikt und seine Rechtsfolgen nicht mehr zu legitimieren.

Auch Hoven selbst hatte den Gesetzentwurf der Union im Januar im Rechtsausschuss für unvereinbar mit Art. 5 Abs. 2 GG gehalten. Der Augsburger Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel befürwortete den Vorschlag grundsätzlich, warnte in der Anhörung aber vor einem "nicht unerheblichen Prozessrisiko", sollte sich das Bundesverfassungsgericht mit der neuen Norm befassen. Wohl deshalb darf der Unions-Entwurf mittlerweile als gescheitert gelten.

Ob es überhaupt zu einer Neuregelung kommt und wie diese aussehen könnte, ist derzeit völlig offen. Dass das BMJ von seiner Haltung abrückt, das StGB sei im Kampf gegen antisemitische Hetze und Gewaltaufrufe gut gewappnet, zeichnet sich derzeit nicht ab. Das Vorpreschen von Faesers BMI wirkt insofern etwas unkoordiniert – auch deshalb, weil SPD-Rechtspolitiker bislang eher Sympathien für den Reformvorschlag von Hoven ausgedrückt haben, den auch der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein unterstützt. Der Vorschlag sieht eine ganze Reihe von Streichungen der in § 130 Abs. 1 StGB vorgesehenen Hürden vor, auch er will auf den Inlandsbezug verzichten.

"Mit dem Bestimmtheitsgrundsatz unvereinbar"

Nicht politisch aufgegriffen wurde bislang ein Vorschlag des Berliner Tikvah-Instituts. Der 2020 von der Journalistin Deidre Berger und dem ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten Volker Beck gegründete Thinktank widmet sich der Bekämpfung von Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen. Das Tikvah-Institut regt an, unter der Überschrift "Aufruf zur Vernichtung eines Staates" einen neuen § 103 in das StGB zu schreiben. Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe soll bestraft werden, wer zur Vernichtung eines Staates, der Mitglied der Vereinten Nationen ist, aufruft oder diese billigt.

Laut Tikvah-Geschäftsführer Beck, aktuell auch Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, eröffne dies "eine verfassungskonforme Möglichkeit der Strafbarkeit der Vernichtungsdrohung gegen Israel". Der Vorschlag ähnelt dem Änderungvorschlag des BMI zu § 130 StGB. Auch hier stellt sich daher die Frage nach dem zu schützenden Rechtsgut. Auch ein neuer § 103 StGB müsste sich als Äußerungsdelikt an der Meinungsfreiheit und damit Art. 5 Abs. 2 GG messen lassen. Unabhängig stellt sich die Frage, ob die Norm auch umgekehrt auf Palästina-feinliche Aussagen anwendbar wäre. Nach dem Tikvah-Vorschlag soll das nicht der Fall sein, weil Deutschland Palästina diplomatisch nicht als Staat anerkennt.

Ob Palästina nach dem BMI-Vorschlag unter der Formulierung "auswärtige Belange" Schutz erhielte, ist unklar. Und genau dort liegt ein grundsätzlicheres Problem mit der Formulierung: ihre Unbestimmtheit. Laut Jahn handelt es sich um eine "konturlose Generalklausel, die mit dem Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht unvereinbar sein dürfte. Wie soll man im vorhinein bestimmen können, ob irgendeiner der gut 200 Staaten auf der Erde eine Äußerung als unfreundlichen Akt werten wird?"

BMI will die Strafrechtslage unbedingt ändern 

Der nun bekannt gewordene Vorschlag ist nicht der einzige etwas plumpe Vorstoß des BMI in Sachen Antisemitismusbekämpfung. Was die Parole "From the River to the Sea" angeht, so hat Faesers Haus in der Hamas-Verbotsverfügung Anfang November sämtliche Varianten in sämtlichen Sprachen kurzerhand als Hamas-Symbol eingestuft. Seither kommt auch eine Strafbarkeit nach §§ 86, 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) in Betracht. Der Vorwurf besteht hier nicht darin, gegen eine Personengruppe zu hetzen, sondern darin, das Symbol einer verbotenen terroristischen Vereinigung benutzt zu haben.

Ob diese Zuordnung angesichts der Historie der Parole und der Hamas wirklich zutreffend ist, ist umstritten. Verwaltungsgerichte kommen derzeit zu unterschiedlichen Einschätzungen. Die Frage spielt dort in Eilverfahren gegen Demo-Auflagen und -Verbote immer wieder eine Rolle. Auch Strafgerichte sind sich bislang uneins.

Man wird den Eindruck nicht los, das BMI wolle hier die Kompetenzen der Polizei- und Versammlungsbehörden mit der Brechstange erweitern – durch Einflussnahme auf eines der sensibelsten Rechtsgebiete, die es gibt: das Strafrecht. Dabei wird auch ein Systembruch in Kauf genommen.

Aktualisierte Fassung vom Tag der Veröffentlichung, 20:15 Uhr.

Zitiervorschlag

Neuer BMI-Vorschlag zur Volksverhetzung: . In: Legal Tribune Online, 06.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54492 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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