2/3: BVerfG: Der Staat muss den Fetus schützen; die Schwangere ihn austragen
Berühmt sind die Entscheidungen aus Karlsruhe, weil das BVerfG 1975 die Figur der staatlichen Schutzpflicht entwickelt hat. Danach müssen Bürgerinnen und Bürger nicht nur gegen Freiheitsbeschränkungen durch den Staat geschützt werden, sondern auch vor Rechtsverletzungen durch andere Private. Aus dem verfassungsrechtlichen Zweierverhältnis von Staat und Privatperson wird ein Dreieck aus Staat und mehreren Privatpersonen.
Aus dem Verfassungsrecht ist die staatliche Schutzpflicht heute nicht mehr wegzudenken. Ungünstig ist nur, dass die Figur des Dreiecks so gar nicht auf Staat, Schwangere und Fetus passt, weil letztere eine "Zweiheit in Einheit" (so das BVerfG selbst) bilden und nicht zwei getrennte Enden einer geometrischen Figur.
In den beiden Entscheidungen hat das BVerfG 1975 (Urt. v. 25.02.1975, Az. 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – Schwangerschaftsabbruch I) und 1993 (BVerfG, Urt. v. 28.05.1993, AZ. 2 BvF 2/90 und 4,5/92 – Schwangerschaftsabbruch II) diesen zentralen Aspekt verkannt und im Wesentlichen entschieden: Der Embryo/Fetus stellt ein selbständiges Rechtsgut dar. Er ist vom Staat auch mit den Mitteln des Strafrechts auch gegenüber der Schwangeren zu schützen. Und jede (auch ungewollt) schwangere Frau hat von Verfassungs wegen die Pflicht, einen Fetus auszutragen. Da dessen Lebensrecht stets Vorrang hat, ist der Schwangerschaftsabbruch immer rechtswidrig. Nur ausnahmsweise können Frauen straflos bleiben.
Sondervoten: Die "Zweiheit in Einheit" und der abgestufte Schutz
Die Entscheidungen des BVerfG lehnten jeweils Versuche des Gesetzgebers ab, den Schwangerschaftsabbruch durch Fristenregelungen zumindest teilweise zu entkriminalisieren. Allerdings bestand beim BVerfG selbst keine Einigkeit, zu beiden Entscheidungen gab es abweichende Sondervoten.
Richterin Wiltraut Rupp-von Brünneck und Richter Helmut Simon wiesen 1975 auf die Singularität der Schwangerschaft hin, bei der Schwangere und Fetus eine "Zweiheit in Einheit" bildeten. Der Schwangeren werde nicht nur abverlangt, eine Tötungshandlung zu unterlassen, sondern sie solle auch das Heranwachsen der Leibesfrucht in ihrem Körper dulden und später jahrelang mütterliche Verantwortung übernehmen. Dieser ganz besonderen Konstellation werde gerade die Fristenregelung gerecht, die einen abgestuften Schutz des Fetus mit dessen zunehmender Entwicklung zum selbstständigen Leben anerkenne.
Die Richter Bertold Sommer und Ernst Gottfried Mahrenholz wiesen in ihrem Sondervotum 1993 darauf hin, dass es stets Frauen seien, welche die Konsequenzen zu tragen hätten, wenn Sexualität und Kinderwunsch wie so oft nicht übereinstimmten. Die Mehrheit verkenne hier die Rechtsposition der Schwangeren. Die Kollision der Würde des Embryos und der Würde der Schwangeren in der "Zweiheit in Einheit" müsse verhältnismäßig aufgelöst werden. Deshalb habe in der Frühphase der Schwangerschaft die Frau das Letztentscheidungsrecht, wenn sie zuvor eine Beratung aufgesucht hat. Richter Böckenförde vertrat in seinem Sondervotum überdies, dass die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs nach Beratung und in der Frühphase durchaus von den Krankenkassen getragen werden könnten.
BVerfG-Mehrheit: Eher Sanktion für weibliche Sexualität als Rechtsdogmatik
Die Entscheidungen des BVerfG weisen viele handwerkliche Mängel auf. Gleichzeitig erzeugen sie starke Bilder vom schutzbedürftigen Fetus und verantwortungslosen Schwangeren, die sich um ihrer Bequemlichkeit willen gegen ein Kind entscheiden, "weil sie nicht willens sind, den damit verbundenen Verzicht und die natürlichen mütterlichen Pflichten zu übernehmen", wie es in der Entscheidung von 1975 heißt.
Tatsächlich haben mehr als 60 Prozent der Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, bereits ein oder mehrere Kinder. Sie wissen also, worum es bei den Mutterpflichten geht. Auch führen Kriminalisierung und härtere Strafen nicht zu weniger, sondern nur zu gefährlicheren illegalen Schwangerschaftsabbrüchen.
Die Überlegungen des BVerfG schaffen außergewöhnliches Sonderrecht für schwangere Frauen. Niemand kann nach deutschem Recht zu einer lebensrettenden Organspende oder auch nur Blutspende gezwungen werden. Es gibt keine Leistungsrechte an fremden Körpern, Körperteilen oder Körperflüssigkeiten. Die ungewollt schwangere Frau aber muss, so die Argumentation der Karlsruher Richter, monatelang ihren Körper für die Entwicklung eines anderen Menschen zur Verfügung stellen. Hintergrund dieser Auffassung der Mehrheit der Karlsruher Richter scheint zu sein, dass sie die Schwangerschaft ja selbst durch sexuelle Aktivität verursacht hat (wenn auch vermutlich unter Beteiligung eines Mannes). Ein rechtliches Argument ist daraus nicht ableitbar.
Auch ist eine Rechtsordnung, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter und eine Austragungspflicht für ungewollt schwangere Frauen gleichermaßen gelten, nur sehr mühsam vorstellbar. Und doch regelt das derzeitige deutsche Recht genau das.
Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: . In: Legal Tribune Online, 21.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25631 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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