Mit einer Entscheidung vom August 2009 erklärte das Bundesverfassungsgericht in einem Fall aus Mecklenburg-Vorpommern die Praxis der Geschwindigkeitsüberwachung mit dem System VKS für rechtswidrig. Viele Gerichte übertrugen die Leitlinien des Urteils auf andere Messverfahren. Damit sind die Chancen für erfolgreiche Einsprüche gegen Bußgeldbescheide bundesweit gestiegen.
In zahlreichen Bundesländern wird die Einhaltung des Sicherheitsabstands, der außerhalb geschlossener Ortschaften der Hälfte der gefahrenen Geschwindigkeit entspricht, mit dem VKS-System der Firma Vidit gemessen. Mit diesem System können sowohl der Abstand als auch die Geschwindigkeit gemessen werden - und ein Foto des Fahrers kann die Software obendrein herausfiltern.
Ein wahrer Tausendsassa der Verkehrsüberwachung – glaubte man bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. August 2009 (Az. 2 BvR 941/08).
Das BVerfG wies den beiden Vorinstanzen aus Güstrow und Rostock Verfassungsverstöße bei der Auslegung der Rechtsgrundlagen für die angewandte Überwachungsmethode nach. Darin, dass die Ordnungsbehörde und nachfolgend auch die beiden Gerichte die Rechtmäßigkeit des Bußgeldbescheides für den Geschwindigkeitsverstoß lediglich auf einen ministerialen Erlass, mithin auf innerbehördliches Recht stützten, lag ein willkürliches Verwaltungshandeln.
Damit verstießen die Entscheidungen gegen das Willkürverbot aus Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) und die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Auch die Begründung des obersten deutschen Gerichts war spannend.
Videoaufzeichnung und die Ausschnittvergrößerung greift in GG ein
Mit dem VKS-System werden Videosequenzen des auf die Messstelle auflaufenden Verkehrs angefertigt. Ist der Abstand zwischen zwei Autofahrern zu gering oder die gemessene Geschwindigkeit höher als auf dem betreffenden Streckenabschnitt erlaubt, gilt die Ordnungswidrigkeit als technisch einwandfrei bewiesen.
Dass dieses System technisch einwandfrei arbeitet, wurde im Jahr 2005 durch das Oberlandesgericht (OLG) Dresden bewiesen (Beschl. v. 08.07.2005, Az. Ss (OWi) 801/04) und seither nicht mehr angezweifelt.
In einem nächsten Schritt der Ermittlungen fertigt der Messbeamte eine Ausschnittvergrößerung des Fahrers, um diesem gegenüber einen Bußgeldbescheid erlassen zu können. Beide bildverarbeitenden Verfahren, die Videoaufzeichnung des Verkehrsverstoßes und die Ausschnittvergrößerung, beinhalten staatliche Eingriffe in das Grundrecht des Fahrers auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 und 2 GG).
Kein Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung ohne Gesetz
Für Eingriffe in dieses Grundrecht wird jedoch ein legitimierendes Gesetz benötigt und keineswegs – wie in Mecklenburg-Vorpommern geschehen – eine bloße Verwaltungsvorschrift. Hinzu kam in Mecklenburg-Vorpommern noch der für alle beteiligten Juristen peinliche Fauxpas, dass die herangezogene Verwaltungsvorschrift nur für Abstandsverstöße, nicht aber für Geschwindigkeitsverstöße galt. Wenn aber keine gesetzliche Grundlage für das Erheben eines Beweises in einem Bußgeldverfahren existiert, spricht man von einem Beweiserhebungsverbot.
Mit diesen Bemerkungen gab das Bundesverfassungsgericht das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurück an die Justiz des nordöstlichen Bundeslandes. Deren Auftrag lautet nun, entweder eine andere, nunmehr tragfähige Rechtsgrundlage zu finden oder aber den Geschwindigkeitstäter freizusprechen.
Bundesweit fehlt es an spezialgesetzlichen Rechtsgrundlagen für die Verkehrsüberwachung. Polizei und Kommunen stützten ihre Überwachung von Geschwindigkeit, Abstand und Rotlicht bislang jeweils auf ministeriale Erlasse, also auf innerdienstliches Recht.
Dies ist insoweit für die Fahrzeugführer unschädlich, als wenigstens die Anfertigung von Videos und Beweisfotos auf einer gesetzlichen Grundlage beruht. Eine solche wird von Behörden und Teilen der Justiz aus dem § 100 h der Strafprozessordnung herausgelesen, der analog auch im Bußgeldverfahren gilt. Gerade erst im vergangenen Oktober bekräftigte das OLG Bamberg diese Rechtsauffassung mit Beschluss vom 15.10.2009, Az. 2 Ss OWi 1169/09.
Amtsgerichte sprechen Betroffene frei
Doch zahlreiche Amtsgerichte aus ganz Deutschland vertreten eine diametral entgegengesetzte Rechtsauffassung und sehen die Verkehrsüberwachung mittels Video und Fotografie seit der Entscheidung des BVerfG als nicht gesetzlich legitimiert an. Die Amtsgerichte in Arnstadt, Bad Kreuznach, Grimma, Meißen und Ludwigslust etwa sprachen Betroffene in Bußgeldverfahren aus den genannten Gründen frei.
Rechtssicherheit dürfte erst dann wieder einkehren, wenn die Bundesländer ihre Verkehrsüberwachung auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Der beste Ort dafür wären die Polizeigesetze der Länder, weil diese – wie auch die Verkehrsüberwachung – der Gefahrenabwehr dienen.
Bei dieser Gelegenheit könnten auch gleich weitere anstehende Reformvorhaben, wie die automatische Kennzeichenerfassung und die durch den Verkehrsgerichtstag empfohlene streckenbezogene Geschwindigkeitsüberwachung (Section-Control), auf ihre Tauglichkeit zur Steigerung der Verkehrssicherheit geprüft werden.
Der Autor Prof. Dr. Dieter Müller ist Fachbereichsleiter für Verkehrswissenschaften an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH), wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen und Autor zahlreicher Publikationen zum Verkehrsrecht.
Dieter Müller, Abstandsmessung im Straßenverkehr: . In: Legal Tribune Online, 20.04.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/257 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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