3/3: Auf dem Weg zu einer Stimmung wie in den USA?
LTO: In den Vereinigten Staaten ist seit einigen Jahren eine ähnliche, teils noch stärker ausgeprägte Bewegung zu sehen, besonders an Hochschulen. Glauben Sie, dass Deutschland diesem Vorbild folgen wird?
Hoven: Das ist meine Befürchtung. Ich war gerade an einer amerikanischen Universität und die Stimmung, die ich dort erlebt habe, hat mir Sorgen gemacht. In jeder möglichen Grenzüberschreitung wird dort gleich eine Sexualstraftat vermutet. Natürlich gibt es schreckliche Ereignisse, vor denen Frauen geschützt werden müssen. Aber auch für die Männer ist es eine erhebliche Belastung, wenn man bei jeder Begegnung strafrechtliche Konsequenzen befürchten muss. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern scheint mir dort sehr angespannt zu sein.
Fischer: Ich vertraue da auf eine eher liberale und weniger religiös-fanatische Grundmentalität in Europa. In den USA haben wir es heute mit einer weithin desintegrierten Gesellschaft zu tun, die sich in Kleingruppen flüchtet und fanatische Glaubensbekenntnisse zu dieser oder jener Moral sozusagen als Sammelpunkte von Kreuzzügen gegen das Böse postuliert. Ich glaube nicht, dass wir so etwas hier erleben werden. Am Grund aller Aufregungen muss man ja konstatieren, dass die Mehrheitskultur in Deutschland nicht – oder jedenfalls noch nicht – von einem religiös anmutenden Sexualitäts-Rigorismus geprägt ist wie in den USA. Es wurden in der absurden Sex-Diskussion in Deutschland ja auch nicht etwa reale Ereignisse oder Bedrohungen der Sexualmoral instrumentalisiert, sondern die wohlfeile Ausländer- und Fremdenangst.
LTO: Umgekehrt gibt es nach Fällen wie dem von Jörg Kachelmann oder Andreas Türck auch eine Tendenz, die Aussagen angeblicher Opfer von Sexualstraftaten unter den Generalverdacht der Falschverdächtigung zu stellen. Ist das nicht genauso falsch?
Fischer: Jeder lügt, wenn es ihm nützt. Wer das bestreitet und damit Strafrechtspolitik machen will, hat schon verloren. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Männer die Missbrauchsmöglichkeit nicht genauso gut ausnutzen könnten. Man muss aber auch bedenken, dass schon ein Ermittlungsverfahren im Bereich der Sexualstraftaten geeignet ist, beim Beschuldigten hohe soziale Kosten zu verursachen.
Hoven: Wo es Rechte gibt, werden Rechte auch missbraucht. Es gibt keine seriösen Zahlen zur Häufigkeit von Falschbeschuldigungen in diesem Bereich, aber es ist ein Phänomen, das existiert. Gerade in sehr emotionalen Situationen ist ein Missbrauch naheliegend und der Vorwurf allein wiegt schon schwer.
"In der Breite der Gesellschaft besteht keine Kultur rationaler Diskussion"
LTO: Muss das Recht nicht auch gesellschaftlichen Trends folgen, um seine Legitimation zu bewahren?
Fischer: In einem bestimmtem Umfang natürlich, das Recht ist ja ein Abbild der Gesellschaft. Aber das Strafrecht ist von allen Regeln, die wir uns geben, die Ultima Ratio. Der Staat muss sich daher genau überlegen, was in diesen Bereich hinein gehören soll. Es gibt viele Sanktionsmöglichkeiten für abweichendes Verhalten, auch informelle. Man kann nicht das ganze Leben im Strafrecht auflösen.
LTO: Ist es überhaupt möglich, eine zielführende Debatte über ein so schwieriges und emotional belegtes Thema zu führen, wenn der Diskurs großenteils in sozialen Netzwerken und Kommentarspalten stattfindet?
Hoven: Ich bin da vorsichtig optimistisch. Aber ich finde es problematisch, dass einige Menschen sehr schnell – und häufig sehr drastisch – mit ihrer Meinung dabei sind, ohne sich vorher ausreichend über das Thema zu informieren. Zudem muss es möglich sein, auch in sensiblen Bereichen wie dem des Sexualstrafrechts zwar in der Sache hart und kontrovers zu diskutieren, aber im Umgang respektvoll zu bleiben und andere Meinungen zu tolerieren. Eine sachlichere, nüchternere und informiertere Diskussionskultur wäre wünschenswert.
Fischer: Man muss es hoffen. Dadurch, dass jetzt alle gleichzeitig reden und sich wichtig fühlen können, ist es natürlich schwieriger geworden. In der Breite der Gesellschaft besteht auch ersichtlich keine Kultur rationaler Diskussion. Aber wir müssen damit zurechtkommen und mit den Menschen reden, denn nur so können sinnvolle Lösungen gefunden werden. Da muss man sich halt auch einmal beschimpfen lassen. Die meisten der Schimpfer und Alleswisser-in-einer-Minute meinen es ja nicht böse. Aber man muss ihnen auch klar sagen, dass es am Ende nicht auf dahingemotzte sogenannte Betroffenheiten wirklich ankommen kann, sondern dass sie sich anstrengen müssen.
Jun.-Prof’in Dr. Elisa Hoven lehrt am Institut für Straf- und Strafprozessrecht der Universität zu Köln. Prof. Dr. Thomas Fischer ist Richter am Bundesgerichtshof und Autor eines Strafrechts-Kommentars.
Das Interview führte Maximilian Amos.
Maximilian Amos, Interview mit Elisa Hoven und Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 31.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21018 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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