Bald bricht eine neue Ära des Kartellschadensersatzes an: Versteckt in der 9. GWB-Novelle, die das Kartellrecht modernisieren soll, finden sich Regelungen, die das deutsche Prozessrecht essentiell verändern.
Viel Spielraum blieb dem deutschen Gesetzgeber nicht - Brüssel hatte die Richtung vorgegeben: Die von allen Mitgliedstaaten bis zum 27. Dezember2016 umzusetzende EU-Schadensersatzrichtlinie 2014/104/EU sollte einheitlichere Rechtsnormen in der EU schaffen. Es soll das Kartellrecht modernisiert und es Kartellopfern leichter gemacht werden, Schadensersatz von Kartellanten zu erlangen.
In wenigen Tagen tritt das deutsche Umsetzungsgesetz nun mit etwas Verspätung in Kraft. Die Änderungen sind weitreichend. Umso mehr überrascht es, dass es kaum Diskussionen im Gesetzgebungsprozess gab. Der Regierungsentwurf passierte die diversen Ausschüsse größtenteils unverändert.
Schadensersatz trifft Kartellanten mehr als die Bußgelder
Für die Unternehmen bedeuten die Neuregelungen bei Kartellverstößen eine deutliche Verschärfung im Hinblick auf den möglicherweise zu leistenden Schadensersatz.
Denn ein Kartellverstoß hat schon bisher nicht nur das allgemein bekannte Bußgeld der Wettbewerbsbehörde zur Folge - es sei denn, die Kartellanten kommen als Kronzeuge ohne Zahlung davon. Darüber hinaus ist der Kartellbeteiligte verpflichtet, den Abnehmern den durch das Kartell verursachten Schaden auszugleichen.
Im Grundsatz müssen die Kartellanten den Mehrbetrag zuzüglich Zinsen ersetzen, der von den Unternehmen in der Lieferkette wegen des Kartells zu viel gezahlt wurde. Multipliziert mit der Abnahmemenge im gesamten Kartellzeitraum – und häufig noch darüber hinaus – kann diese Mehrbelastung (overcharge) zu hohen Millionen- und gar Milliardenforderungen führen.
Derartige Klagen auf Kartellschadensersatz in dieser Größenordnung sind schon bisher vor deutschen Gerichten keine Seltenheit. In den Vereinigten Staaten führen solche Schadensersatzansprüche bereits zu höheren finanziellen Belastungen für Kartellanten als die Bußgelder der Kartellbehörden.
Schadensvermutung für Unternehmen in der Lieferkette
In der Theorie ist der Anspruch auf Schadensersatz schnell begründet, zumal das Zivilgericht an die Feststellung des Kartellverstoßes durch die Behörden gebunden ist. In der Praxis fällt der Nachweis, welcher Preis sich ohne das Kartell gebildet hätte, allerdings häufig schwer - um diesen hypothetischen Preis zu ermitteln, benötigt man die Expertise von Wettbewerbsökonomen.
Die wird man auch künftig brauchen – doch der Nachweis, dass die Preiserhöhungen auf das Kartell zurückzuführen sind, wird mit der Novelle vereinfacht. Insbesondere Unternehmen, die nicht direkt von einer Kartellabsprache betroffen sind, sondern erst auf einer späteren Stufe der Lieferkette, haben es nun leichter. Nach der Neufassung wird gesetzlich vermutet werden, dass der Schaden auf ihre Ebene weitergereicht worden ist. Es liegt damit an den Kartellanten, dem entgegenzutreten.
Ausweitung der Rechte auf Vorlage von Dokumenten
Ein weiteres praktisches Problem war bislang die Informationsbeschaffung. Zwar verpflichtet die Zivilprozessordnung (ZPO) bereits jetzt den Prozessgegner und auch Dritte dazu, Unterlagen vorzulegen. Die Gerichte wenden diese Vorschriften, die an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind, jedoch restriktiv an. Denn die Pflicht zur Offenlegung von Dokumenten, die im anglo-amerikanischen Recht eine Grundsäule des Rechtssystems ist, gilt hierzulande als Ausforschung des Prozessgegners und ist verpönt.
Dieser Ansatz wird nun auf die Probe gestellt. Kartellopfer erhalten deutlich umfassendere Rechte auf Vorlage relevanter Dokumente. Dies gilt nicht nur gegenüber den Kartellanten selbst, sondern auch gegenüber Dritten, die am Rechtsstreit nicht beteiligt sind.
Damit wird im deutschen Recht Neuland betreten. Dieser Bruch mit der Rechtstradition überrascht, zumal die neuen Vorlagerechte über die Vorgaben der Richtlinie hinausgehen. So können sie schon ausgeübt werden, bevor eine Klage eingereicht wird. Zur Einschränkung der neuen Informationsrechte wurden einige eher unscharf konturierte Regelungen, wie etwa für geheimhaltungsbedürftige Daten, ergänzt.
Deutschland steht mit dieser großzügigen Umsetzung der Discovery-Rechte nicht allein. Nach derzeitigem Umsetzungsstand wird etwa Spanien die Richtlinie zum Anlass nehmen, die neuen Offenlegungsrechte auf sämtliche kommerzielle Zivilrechtsstreitigkeiten auszuweiten.
9. GWB-Novelle in der Praxis: . In: Legal Tribune Online, 18.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22659 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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